Menetekel USA

Von Tocqueville zur "Dialektik der Aufklärung"

In einer ähnlichen Situation wie Tocqueville befanden sich über hundert Jahre später zahlreiche europäische Intellektuelle, die vor der nationalsozialistischen Machtergreifung nach den USA flüchteten. Statt der erhofften Freiheit fanden sie dort eine neue Art des Despotismus, der die Menschen nicht physisch, sondern psychisch zerstört und so gefügig macht. Letztlich gelangten Max Horkheimer und Theodor W. Adorno zum selben Befund wie Tocqueville, wenn sie feststellten:

Die formale Freiheit eines jeden ist garantiert. Keiner hat sich offiziell für das zu verantworten, was er denkt. Dafür sieht jeder sich von früh an in einem System von Kirchen, Klubs, Berufsvereinen und sonstigen Beziehungen eingeschlossen, die das empfindsamste Instrument sozialer Kontrolle darstellen. Wer sich nicht ruinieren will, muß dafür sorgen, daß er, nach der Skala dieses Apparats gewogen, nicht zu leicht befunden wird. Sonst kommt er im Leben zurück und muß schließlich zugrunde gehen. (8)

Bei der Masse der Einwanderer und Emigranten, die einen praktischen Beruf ausübten, konnte die Anpassung an den hier beschriebenen Druck zum großen Teil unreflektiert vor sich gehen. Anders stellte sich das Problem für Intellektuelle, deren Identität aufs engste mit einem geistigen Beruf verbunden war. Für sie geriet die Eingliederung in die US-amerikanische Gesellschaft vielfach zum Schock. Sie mußten erkennen, daß sich für ihre spezifische Sozialisation und Geistigkeit keine Verwendung fand. Noch schlimmer: Es gab nicht einmal Verständnis dafür. Sie standen vor der Wahl, entweder ihre Identität zu verlieren oder sich als Tellerwäscher durchzuschlagen. Adorno beschreibt das Trauma, das er und andere europäische Emigranten in den USA erlitten, mit diesen Worten:

Dem Intellektuellen von drüben wird unmißverständlich bedeutet, daß er sich als autonomes Wesen auszumerzen habe, wenn er etwas erreichen - unter die Angestellten des zum Supertrust zusammengeschlossenen Lebens aufgenommen werden will. Der Renitente, der nicht kapituliert und mit Haut und Haaren sich gleichschaltet, ist preisgegeben den Schocks, welche die zu Riesenblöcken aufgetürmte Dingwelt all dem erteilt, was nicht selber sich zum Ding macht. Die Verhaltensweise aber, mit der der Intellektuelle, ohnmächtig in der Maschinerie des allseitig entwickelten und allein anerkannten Warenverhältnisses, auf den Schock reagiert, ist die Panik. (9)

Aus dieser Panik des Intellektuellen vor der US-amerikanischen Gesellschaft entstand, Adorno zufolge, die "Brave New World" des Engländers Aldous Huxley. Dieser 1932 erschienene Roman ist die beklemmende Phantasie einer Zukunft, in der Individuum und Gesellschaft identisch sind. Alle Menschen werden per Zellteilung aus eineiigen Zwillingen herangezüchtet. Auf ähnliche Weise werden soziale Unterschiede, Bewußtsein, Leben, Liebe und Tod gesteuert. Sogar die Dummheit entsteht nicht mehr naturwüchsig, sondern durch künstlichen Zusatz von Alkohol ins Blut von Embryonen. Adorno charakterisiert die Brave New World als "ein einziges Konzentrationslager, das, seines Gegensatzes ledig, sich fürs Paradies hält". Huxley versuche so, "die Schocks aus dem Prinzip der Entzauberung der Welt zu begreifen, es ins Aberwitzige zu steigern und die Idee von Menschenwürde der durchschauten Unmenschlichkeit abzutrotzen".

Dieselbe Panik bestimmte nicht zuletzt Adornos eigenes Werk. Sie fand ihren Ausdruck in der "Dialektik der Aufklärung", die er zusammen mit Max Horkheimer 1944 in Kalifornien abschloß. Die Verfasser glauben darin feststellen zu können, daß "die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt" (10).

Zustimmend zitieren Horkheimer und Adorno die Ansicht Tocquevilles, daß der neue Despotismus nicht mehr den Körper schlage, sondern gleich auf die Seele losgehe. Das Hauptinstrument der neuen Tyrannei erkennen sie in der "Kulturindustrie", also den Medien als Nachfolger jener Zeitungen, die schon Tocqueville als die wichtigsten Mittel zur Erzeugung psychischen Drucks beschrieb. Aus ihrer Kenntnis des US-amerikanischen Kulturbetriebs gelangen sie zu der pessimistischen These, daß sich Tocquevilles Prophetie mittlerweile ganz bewahrheitet habe (11). Der in den USA beschrittene Weg zur massenhaften Verblödung sei schier unumkehrbar. Die neue Tyrannei drohe keineswegs allein den USA. Es sei illusionär, die Barbarei der Kulturindustrie mit der Zurückgebliebenheit des amerikanischen Bewußtseins hinter dem Stand der Technik erklären zu wollen. Zurückgeblieben sei vielmehr die europäische Geistigkeit hinter der Tendenz zum Kulturmonopol (12). Erst diese relative Zurückgebliebenheit ermögliche dem Europäer den kritischen Blick auf die neue Barbarei, die ihn zwar noch nicht voll erfaßt habe, die aber letzten Endes auch sein Schicksal sei.

Die massenhafte Verblödung, wie sie Horkheimer und Adorno begreifen, kommt mit dem Gestus der Aufklärung daher. Sie hat nur wenig mit traditioneller Demenz und Köhlerglauben zu tun. Sie gibt sich vielmehr vielseitig, beschlagen, intelligent, wortgewandt, sogar rebellisch. Sie kennt keine ehernen Dogmen, sondern knetet die Bewußtseinsinhalte der Massen täglich neu. Ihre Welt sind weniger die Kirchen als Presse, Funk und Werbung. Die Identität von Individuum und Gesellschaft wird sogar noch in der Illusion von Auflehnung gestiftet:

Was widersteht, darf überleben nur, indem es sich eingliedert. Einmal in seiner Differenz von der Kulturindustrie registriert, gehört es schon dazu wie der Bodenreformer zum Kapitalismus. Realitätsgerechte Empörung wird zur Warenmarke dessen, der dem Betrieb eine neue Idee zuzuführen hat. Die Öffentlichkeit der gegenwärtigen Gesellschaft läßt es zu keiner vernehmbaren Anklage kommen, an deren Ton die Hellhörigen nicht schon die Prominenz witterten, in deren Zeichen der Empörte sich mit ihnen aussöhnt. (13)

Fand Tocqueville seinerzeit keinen vertrauten Begriff, um den neuen Despotismus bezeichnen zu können, den er in der US-amerikanischen Gesellschaft heraufdämmern sah, so glaubte er doch, diesen Despotismus umschreiben zu können. Für Horkheimer und Adorno ist selbst das nicht mehr möglich. Ihnen versagt bereits die Sprache vor der neuen Barbarei. Für sie ist ein Zustand erreicht, "in dem unentrinnbar der Gedanke zur Ware und die Sprache zu deren Anpreisung wird". Es biete sich kein Ausdruck mehr an, "der nicht zum Einverständnis mit den herrschenden Denkrichtungen hinstrebte". Das Denken sei der oppositionellen Begriffssprache an sich beraubt. Deshalb müsse der Versuch, "solcher Depravation auf die Spur zu kommen, den geltenden sprachlichen und gedanklichen Anforderungen Gefolgschaft versagen, ehe deren welthistorische Konsequenzen ihn vollends vereiteln" (14).

Gemeinsam ist allen zitierten Kritikern ein Erschrecken vor der US-amerikanischen Gesellschaft, das zugleich ein Erschrecken vor dem künftigen Schicksal Europas und sonstiger Teile der Welt ist. Bei Tocqueville äußert sich dieses Erschrecken eher verhalten. Es ist mehr Vorahnung als gültiger Befund. Daß es überhaupt so deutlich zum Ausdruck kommt, dürfte mit Tocquevilles eigener und der Situation Frankreichs zusammenhängen: Tocqueville will den rivalisierenden Kräften seines Landes signalisieren, daß jede Übertreibung von Übel sei, nach der aristokratischen wie nach der demokratischen Seite hin. (Unter solchen konservativen Auspizien erfolgte nach dem Zweiten Weltkrieg auch die Wiederentdeckung Tocquevilles.)

Bei Horkheimer und Adorno ist das Erschrecken ausgeprägter. Es trägt panische Züge. Es entspringt einem aktuellen Befund und einer persönlichen Betroffenheit. Die Verfasser der "Dialektik der Aufklärung" halten sich nicht wie Tocqueville im Auftrag der Regierung ihres Heimatlandes zu einer Besuchsreise in den USA auf. Sie sind Emigranten, deren Heimat in der Barbarei versank und die sich an ihrem Zufluchtsort einer neuen, subtilen Barbarei gegenübersehen. Die Tyrannei des Stalinismus ist auch nicht dazu angetan, die düstere Szenerie aufzuhellen. So allseitig umstellt, bleibt dem bedrängten Individuum europäischen Zuschnitts nur noch die Flucht in die Innerlichkeit des eigenen Bewußtseins. Das Ergebnis ist die "Dialektik der Aufklärung". Sie ist eine nostalgische Apotheose des bürgerlichen Individuums, das vom fatalen Verhängnis des verdinglichten Bewußtseins einer verwalteten, nivellierten Gesellschaft ausgelöscht zu werden droht. Philosophisch handelt es sich um eine Spielart des Kulturpessimismus, die teilweise Hegel und Marx verpflichtet ist, ihren ideologischen Inhalt aber weitaus stärker von Schopenhauer bezieht. Psychologisch führt die Selbstbespiegelung des Geistes in seiner eigenen Ohnmacht zu Resignation und Handlungsunfähigkeit. Mit ihrer paradoxen These, daß Aufklärung in Mythologie zurückschlage und schon der Mythos Aufklärung sei, erklären Horkheimer und Adorno jeden Versuch der Orientierung für erlaubt und zugleich für sinnlos. Es war deshalb nur folgerichtig, daß beide dem modernen Mythos der Psychoanalyse anhingen und diesen als Aufklärung begriffen.

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