Menetekel USA



Zu den skurrilsten amerikanischen Religionsgemeinschaften gehört der Ancient Mystical Order of the Rosy Cross (AMORC), der nach hauseigener Ideologie aus einer Mysterienschule hervorging, die zur Zeit des Pharao Amenophis IV. um 1350 v. Chr. gegründet wurde. Der "Rosicrucian Park" im kalifornischen San Jose beherbergt die Zentrale der Sekte. Sein eindrucksvollstes Gebäude ist das Rosicrucian Egyptian Museum, das nach Art eines altägyptischen Luxor-Tempels errichtet wurde. Die Suche nach den Wurzeln dieser und anderer Rosenkreuzer-Sekten führt jedoch nicht ins alte Ägypten, sondern ins alte Europa des 17. Jahrhunderts. Mehr dazu in dem Artikel "Die Rosenkreuzer".

"Wilder Drang zum Übersinnlichen"

Wie sieht die amerikanische Kultur, das Bewußtsein des durchschnittlichen Amerikaners zu jener Zeit aus? - Zunächst einmal ist Tocqueville beeindruckt davon, wie hervorragend sich Religion und Politik in den USA ergänzen. Es gebe in den USA keine einzige Glaubenslehre, die sich den republikanischen Einrichtungen feindlich erweise. Die Religion mische sich niemals unmittelbar in die Regierung der Gesellschaft ein und müsse gleichwohl als die erste ihrer politischen Einrichtungen gelten. - Zugleich aber konstatiert Tocqueville schon damals einen "überspannten und fast wilden Drang zum Übersinnlichen", wie man ihn in Europa nicht antreffe. "Von Zeit zu Zeit erheben sich seltsame Sekten, die darauf ausgehen, außergewöhnliche Wege zur ewigen Glückseligkeit zu entdecken. Die Formen religiösen Wahns sind dort sehr verbreitet."

Die Ursache dieses Hangs zum Spirituellen erklärt Tocqueville gerade aus der völlig irdischen Orientierung der US-amerikanischen Gesellschaft. Die Seele komme zu kurz bei der Jagd nach materiellen Gütern. Sie werde "ängstlich und unruhig inmitten der sinnlichen Genüsse". Wenn der US-amerikanische Geist nicht so sehr an den Hang zum Wohlstand gefesselt wäre, könnte er gegenüber immateriellen Werten mehr Zurückhaltung und Erfahrung bekunden und sich ohne Mühe mäßigen, meint Tocqueville. Aufgrund seiner ausschließlich materiellen Orientierung, seiner Einsperrung in die Grenzen sinnlicher Genüsse, fehle ihm jedoch diese Mäßigung. Sobald er, dem Drange der Seele gehorchend, aus der platten Welt der Zwecke und Dinge auszubrechen versuche, finde er "in sich selbst keinen Halt, und er überspringt oft, ohne stehen zu bleiben, die Grenzen des gesunden Menschenverstandes" (6).

Was Tocqueville hier beschreibt, ist jene spezifisch amerikanische Welt der Spiritisten, Wunderheiler und Erweckungsprediger, die noch heute die Europäer zu verständnislosem Kopfschütteln veranlaßt. Er beschreibt die Spaltung des Bewußtseins in eine morastige Welt der Materialität und eine reine Welt der Idealität, die scheinbar beziehungslos nebeneinander existieren und so zum Verlust des Sinns für Realität führen. Er beschreibt einen Zustand der Entfremdung, der durch das totale Aufgehen in der Dingwelt, in sinnlichen Genüssen und irdischen Gütern herbeigeführt wird. - Einen Zustand, dem die kapitalistische Gesellschaft insgesamt naturwüchsig zustrebt.

Schon lange, bevor der US-amerikanische Arzt George M. Beards 1879 den Begriff der "Neurasthenie" prägte, hat Tocqueville deren Symptome als eine Art Nationalleiden der Amerikaner geschildert. Im 13. Kapitel seines Werkes geht er der Frage nach, "weshalb die Amerikaner inmitten ihres Wohlstandes so ruhelos sind". Der Amerikaner hänge so an den Gütern dieser Welt, als sei er gewiß, nicht sterben zu müssen. Zugleich habe er es so eilig, alle ihm greifbaren Güter zu erfassen, als befürchte er jeden Augenblick zu sterben, bevor er sich ihrer erfreut habe. Die Amerikaner wirkten ernst und sogar in ihren Vergnügungen meist traurig. Er habe den Eindruck, daß meist eine Wolke ihre Züge überschatte. Hauptursache dieser verborgenen Unruhe sei "die Vorliebe für die materiellen Genüsse". Da der Genuß das Endziel sei, müsse das Mittel zu seiner Erreichung schnell und bequem sein, um nicht die Mühe des Erringens größer als den Genuß werden zu lassen.

"Darum sind dort die meisten Seelen sowohl leidenschaftlich wie kraftlos, sowohl heftig wie schlaff." Die Vielzahl der gleichgestellten Rivalen im Wettstreit um die materiellen Genüsse tue ein weiteres, um die Seelen zu quälen und zu ermüden (7).

Weiter: Von Tocqueville zur "Dialektik der Aufklärung"