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Gothic Revival


 

Ossian-Ausgabe von 1796
US-Ausgabe von 1856

Für Voltaire eine Frage des Geschmacks

Der "Ossian" im Urteil kritischer Zeitgenossen und seine Rezeption außerhalb Englands

Geistesgeschichtlich widerspiegelt der beispiellose Erfolg des Ossian die Agonie der Aufklärung. Diese hatte sich viel zu sehr der Logik und der klaren Form verschrieben, um der neuen Empfindsamkeit genügen zu können, die später in den Sturm und Drang und schließlich in die Romantik mündete. Der Ossian unterlief den herrschenden Rationalismus geschickt, indem er sich nicht als Produkt einer romantischen Phantasie, sondern als ein wortwörtlich übersetztes Dokument aus dem dritten Jahrhundert präsentierte. Das zeitgenössische Bewußtsein hätte sich mit einer puren Poesie nie in solcher Weise einlassen können. Es verlangte nach dinglicher Legitimation. Ossian durfte deshalb keine poetische Erfindung sein. Nur als vermeintlich historische Gestalt konnte er sich der Phantasie bemächtigen.

Wie wichtig diese pseudo-historische Legitimation war, bewies auch eine ganze Schar von Nachahmern. So legte 1780 der Reverend John Smith die englische Übersetzung und 1787 den angeblichen gälischen Urtext von 14 Gedichten vor, die er im schottischeopn Hochland gefunden haben wollte. Sie wurden ins Deutsche und Italienische übersetzt und in Frankreich sogar der dortigen Ausgabe des Ossian beigefügt. Ähnlich verfuhr ein irischer Offizier namens Harold, der im Dienst des pfälzischen Kurfürsten 1775 den Ossian übersetzte. Er erweiterte dessen deutsche Ausgabe um drei angeblich neu entdeckte Gedichte, denen er 1787 weitere vierzehn und in den Jahren 1801 und 1802 nochmals zwei hinzufügte. Diese Fassung wurde besonders in Deutschland und Skandinavien geschätzt und 1803 ins Russische übersetzt. Als Nachfahren von geringerer Bedeutung erwähnt der Ossian-Experte Paul van Tieghem ferner John Clark, der 1778 angebliche Gesänge der kaledonischen Barden veröffentlichte, und den irischen Bischof Arthur Young, der seine 1787 veröffentlichten ossianischen Gedichte zum Teil aus der echten irisch-keltischen Tradition geschöpft habe.

Als grandiose Fiktion, die angeblich keine war und deshalb gleichermaßen den Ansprüchen des Sensualismus wie des Empirismus genügen konnte, trug der Ossian nostalgische und utopische Züge zugleich. Es hing von der Lesart ab, wie man ihn verstand. In England dürfte die Lesart überwiegend nostalgisch gewesen sein. Die tiefe Demütigung der Schotten durch die Schlacht von Culloden verlangte nach psychischer Kompensation durch die Entdeckung und Verklärung einer großartigen keltischen Vergangenheit. Die Ressentiments zwischen Schotten und Engländern wurden dabei überlagert vom Konflikt zwischen Calvinisten und Anglikanern sowie dem politischen Gegensatz zwischen Whigs und Tories. Das Ergebnis dürfte vor allem den Tories gefallen haben, wie schon daraus hervorgeht, daß der verhaßte konservative Regierungschef die Herausgabe von Fingal und Temora protegierte und Macpherson selbst ganz unverhüllt als Propagandist der Tories auftrat.

Eine Ausnahopme blieb die scharfe Zurückweisung, die der Ossian durch den bekannten Schriftsteller und Literaturkritiker Samuel Johnson erfuhr. Sie bezeugte eine vom Geist der Aufklärung, der Logik und des Rationalismus getragene Skepsis, wie sie am ehesten noch in England anzutreffen war. Johnson urteilte über die angeblichen Bardengesänge:

Ich glaube, sie sind nie in einer anderen Gestalt vorhanden gewesen, als in der wir sie gesehen haben. Der Herausgeber oder Verfasser hat das Original niemals aufweisen können, und es kann selbiges auch niemand anderes aufweisen. Einen vernunftmäßigen Unglauben damit ahnden zu wollen, daß man den Leuten den Beweis abschlägt, ist ein Grad von Übermut, von dem die Welt noch kein Beispiel gesehen hat; und halsstarrige Verwegenheit ist die letzte Zuflucht der Schuld. 1

Auf dem Kontinent wurde der Ossian in vieler Hinsicht anders aufgenommen. Hier glaubte man aus seinen Versen jene Melodie herauszuhören, die Rousseau zur selben Zeit anschlug; eine Naturpoesie, die in ihrer Wildheit auch die verkrusteten Verhältnisse des ancien régime zu sprengen versprach. Zugleich ermöglichte er es dem erwachenden Nationalbewußtsein, eine Brücke vom Antike-Kult zur Glorie der eigenen Vergangenheit zu schlagen. Die Franzosen erkannten in Ossian mühelos ihren keltischen Vorfahren, die Deutschen sahen in ihm einen Germanen und die Skandinavier schätzten ihn als den nordländischen Nationalpoeten.

In Frankreich galt der Ossian zumindest als willkommene Beigabe zum klassizistischen Dekor, in dem die große Revolution vorbereitet und inszeniert wurde. Diderot machte sich sogar an die Übersetzung und war tief beeindruckt von dem unglaublichen Maß an Schlichtheit, Kraft und Pathos in dieser Dichtung.

Zu den wenigen Kritikern gehörte Voltaire. Als Rationalist behagte dem gro&opszlig;en Aufklärer die nostalgische Träumerei nicht und als Skeptiker war er gegen Utopien immun. So sah er im Ossian weniger eine Frage der Echtheit als eine Frage des guten Geschmacks. In einem fiktiven Gespräch ließ er einen Schotten, einen Professor aus Oxford und einen Florentiner über den Ossian disputieren. Nachdem der Schotte begeistert aus dem Fingal rezitiert und der englische Professor besonders den psalmodierenden, biblischen Ton hervorgehoben hat, bekennt der Florentiner - die Inkarnation des guten Geschmacks - , daß in die ossianischen Figuren reichlich kalt ließen: Nichts ist leichter, als die Natur zu übertreiben, nichts ist schwieriger, als sie wirklich wiederzugeben. Es ist keine Kunst, in Schwulst zu verfallen, indem man gebrochene Verse macht, die überladen sind mit schmückenden Worten, die fast immer dieselben sind; indem man Schlacht auf Schlacht folgen läßt und sich in Hirngespinsten ergeht.

In Deutschland gehörte die Gazette des Deux-Ponts zu den wenigen kritischen Stimmen, die nicht in die allgemeine Begeisterung miteinstimmen mochten. Das nahm, wenn man die politische Rezeption des Ossian in Deutschland bedenkt, allerdings nicht wunder. Das Blatt gehörte dem Herzog von Zweibrücken und wurde fast nur an den damaligen Höfen gelesen.Es war also ein Blatt des ancien régime, das allen Grund hatte, dem ossianischen Schlachtenlärm zu mißtrauen.

Im übrigen war die Faszination in Deutschland jedoch so einhellig wie sonst nirgends. Der Geist Ossians schwebte über dem Göttinger Hainbund, in dem sich die Stürmer und Dränger der deutschen Literatur versammelten. Er inspirierte sowohl einen Friedrich Stolberg als auch einen Johann Heinrich Voß, ehe deren Freundschaft über der französischen Revolution zerbrach. Er hat Herders ganzes Lebenswerk geprägt und ihn den Ossian mit Mosesop und Hiob vergleichen lassen. Er hat den jungen Goethe beherrscht und seinen Werther die Lieder von Selma für Lotte übersetzen lassen. Er ist nicht minder in den reifen Klopstock gefahren und hat ihn seine patriotischen Hermanns-Dramen ("Bardiet") dem schottischen Barden ablauschen lassen. Er hat schließlich unzählige namenlose Geister inspiriert, und sei es nur, indem sie ihre Kinder nach dem Ort Selma oder nach dem Helden Oskar nannten. - Dieser deutsche Ossian war weniger ein verkappter Tory als ein verkappter Revolutionär. In ihm überwog die Utopie.

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