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Arkadien


 

In Schwetzingen wurde der ursprüngliche geometrische Garten durch einen Park im englischen Stil umrahmt

Empfindsamkeit

Die Verwirklichung Arkadiens im kontinentalen Garten des 18. Jahrhunderts

Der Wunsch, sich in Ideal-Landschaften nach Art Lorrains zu ergehen, blieb nicht auf England beschränkt. Er griff in der zweiten Hälte des 18. Jahrhunderts auch auf den Kontinent über. Auch hier begann man nun, die geometrisch-symmetrischen Barockgärten als langweilig zu empfinden. Der Zeitgeist wollte emotional statt kognitiv angesprochen werden. Die neue Epoche der Empfindsamkeit delektierte sich nicht am Symbolischen, sondern am unmittelbaren Gefühlswert einer Erscheinung. Das arkadische Landschaftsbild war inzwischen über viele Generationen hinweg so vertraut geworden, daß es ohne kognitive Umwege, ohne Entschlüsselung seiner symbolischen Inhalte, die Empfindung irdischer Glückseligkeit hervorrief. Es lag nahe, dieses Sentiment noch zu steigern, indem man das Bild aus dem zweidimensionalen Rahmen herauslöste und begehbare Bilder nach Art des englischen Gartens schuf.

Typisch für die neue Empfindsamkeit ist Julies Baumgarten, wie ihn Rousseau in seiner 1761 veröffentlichten "Neuen Heloise" beschreibt. Diesem Baumgarten fehlen sämtliche Elemente, die den Schmuck der traditionellen Gärten bilden. Er ist vielmehr ein höchst intimer, von außen den Blicken entzogener Hausgarten, worin Bäume und Büsche angenehme Kühlung spenden, der Blick von den Schattierungen des Grüns gefangen wird, ein Bächlein rieselt und die Vögel zwitschern. Julie hat diesen Garten mit einfachsten Mitteln auf einem ehemaligen Obstgrundstück angelegt. Er dient ihr als Ersatz für den benachbarten Hain, den sie seit ihrer Heirat flieht, weil er sie an die unglückliche Liebe zu St. Preux erinnert. Er ist somit ein Spiegelbild ihres tugendhaften Gemüts. Und auch auf den Ex-Geliebten verfehlt er seine Wirkung nicht: Schon nach kurzem Aufenthalt wird das Gemüt von St. Preux so tugendhaft veredelt, daß er sich seiner fortdauernden Leidenschaft für Julie zu schämen beginnt. 1

Julies Baumgarten ist eine reine Fiktion. Er existiert nur im Kopf Rousseaus. Dennoch trägt er eine Tendenz zur Verdinglichung, zur Materialisierung geistiger Werte, in sich, die früheren Zeiten unbekannt war. Er demonstriert, daß sich das Moralische nicht mehr "von selbst" versteht, sondern in die dingliche Kategorie der Natur übersetzt werden muß. Die Moral gründet sich hier nicht mehr auf göttliches Gebot, sondern bedarf der Stimulierung durch einen Garten, der sozusagen als moralische Anstalt fungiert.

Rousseau kontrastiert das intime, natürliche und bescheidene Elysium Julies zu der prachtvollen Einöde des Gartens von Stowe, der mit exotischen Landschaften und Gebäuden überladen sei. Vermutlich kannte er die englischen Gärten nicht besonders gut. Möglicherweise hat er die frühen emblematischen Formen des Gartens von Stowe mit einem Park des pittoresken Spätstils wie Kew Gardens verwechselt. 2 Seine Beschreibung von Julies Hausgarten stimmt aber in frappierender Weise mit dem Idealgarten überein, der an der Wiege der englischen Gartenkunst steht: Auch bei Joseph Addison, der 1712 den englischen Garten in Gedanken antizipiert, wachsen einfache, heimische Bäume und Sträucher, rieselt der Bach und zwitschern die Vögel.

Bezeichnend für den Wandel des Zeitgeistes, hin zur Empfindsamkeit, war die Kritik, die nunmehr an barocken Anlagen geübt wurde. Zum Beispiel am Schwetzinger Schloßgarten, der 1753 noch ganz im "französischen" Stil begonnen worden war. Es sind unermeßliche Summen hier an eine Anlage in der alten Symmetrie verschwendet worden, befand 1773 der Kieler Philosophieprofessor und Gartentheoretiker Hirschfeld, als er die Sommerresidenz des pfälzischen Kurfürsten besichtigte. Der Garten ist von einem großen Umfang; desto mehr wird man durch die ewige Symmetrie ermüdet, die hier durchgängig herrscht, bis auf einen kleinen Bezirk, den man den englischen Garten nennt. Man sieht nichts als große, gerade Alleen, Hecken und Bogengänge mit Linial und Schnur gezogen, Arcaden, Altane und Nischen von Baumwerk gebildet, eine unnütze Menge von eisernem und hölzernem Gitterwerk; und dazwischen Parterre, Wasserkünste, stehende und liegende Figuren, meistens von Marmor in natürlicher, einige von Gyps in colossalischer Größe, endlich reguläre Wasserbehältnisse. Überall erblickt man Kunst, Pracht und Kosten, aber desto weniger Geschmack, sowohl in Rücksicht auf die Anlage des Ganzen, als auch auf einzelne Szenen. 3

Der Merkur-Tempel im Schwetzinger Park wurde bereits als Ruine errichtet

Obwohl der Schwetzinger Schloßgarten einem am englischen Vorbild orientierten Gartenfreund wie Hirschfeld nicht gefallen konnte, enthielt bereits die ursprüngliche Anlage mehr Neues, als die scharfe Kritik vermuten lassen könnte. Am auffallendsten waren die künstlichen Ruinen, die der frühe barocke Garten nicht gekannt hat. Sie stammten offensichtlich aus dem arkadischen Landschaftsbild. Sie waren aus der Fläche in den Raum verpflanzt und so zum realen, dinglichen Inventar des Gartens geworden. Auf den Gemälden hatten diese Ruinen ursprünglich symbolische Funktion. Im frühesten Kontext sollten sie wohl, im Kontrast zur christlichen Gegenwart, auf heidnische Vorzeit vorweisen. Später standen sie für antike Größe und als Ortsbestimmung für Arkadien. Inzwischen waren sie in der zweiten Funktion so vertraut geworden, daß das Symbol als eigenständiger Gemütswert dienen konnte: Die künstliche Ruine vergegenständlichte die Sehnsucht nach dem Goldenen Zeitalter. Sie materialisierte eine diffuse Sehnsucht nach vergangener Pracht und Größe, die bereits Nostalgie im modernen Sinne war.

Zum Beispiel wurden nun im Schwetzinger Schloßgarten das römische Aquaedukt und der Merkurtempel errichtet. Beide Bauwerke wurden von vornherein als Ruinen ausgeführt. Durch die Verwendung von Tuffstein erhielten diese Ruinen ein stark verwittertes Aussehen, als habe der Zahn der Zeit schon viele Jahrhunderte an ihnen genagt.

Den Stimmungswert der Ruine verstärkte noch die Art ihrer Einfügung in die Gartenlandschaft. Einer der Grundsätze war dabei, daß die Ruine, soweit sie aus größerer Entfernung zu sehen war, völlig entrückt wirken mußte. Die Wege, die zu ihr hin führten, durften weder sichtbar noch breit und gerade angelegt sein. Nur die Sehnsucht sollte die Distanz zu vergangener Pracht und Größe überbrücken dürfen. Im Kontrast zur Fernansicht stand die erhabene Nahwirkung der Ruine, wenn sie sich dem Spaziergänger hinter einer letzten Wegbiegung überraschend offenbarte.

In seinen Beiträgen zur bildenen Gartenkunst gab der Landschaftsgärtner Sckell dazu folgende Anleitung:

Die Lage der Ruinen sollte gewöhnlich in fernen Gegenden des Parks, vorzüglich auf Anhöhen und da gewählt werden, wo sich die Natur in ihrem ernstlichen, feierlichen Charakter zeigt, wo Einsamkeit und schauerliche Stille wohnt, wo die ungesehene Aeolsharfe ertönt, wo dunkle Gebüsche in ungetrennten Massen fast alle Zugänge unmöglich machen, wo der alte Ahorn, die bejahrte Eiche zwischen den bemoosten Mauern stolz emporsteigen, und ihr Alterthum bekunden; da können sich solche traurigen Reste aus längst verschwundenen Jahrhunderten schicklich erheben, und der Täuschung nähertreten. 4

Zur Sehnsucht nach Vergangenem gesellte sich die Sehnsucht nach Exotischem. Die fernen Reiche Chinas, Japans, Indiens, der Türkei und Ägyptens dienten als arkadische Ersatz-Welten. Eine Reise in diese Länder war damals nur wenigen Kaufleuten und Forschern möglich. Die Berichte und Kenntnisse waren von Legenden durchsetzt. Um so mehr eigneten sich diese fernen Reiche als Projektionsfläche für die Empfindsamkeit. Sie galten als abgeschlossene, in sich ruhende Kulturen, sozusagen als Fossilien des Goldenen Zeitalters, denen die Unruhe und Zerrissenheit des modernen Europa so fremd sein mußten wie es ihrer eigenen Fremdartigkeit in europäischen Augen entsprach.

Als Versatzstücke dieser exotischen Welten entstanden in den Parks chinesische Brücken und Pagoden, japanische Teehäuser, türkische Moscheen, ägyptische Sphynxe und Obelisken. Auch die Schweizereien als Allegorie naturverbundenen Lebens gehören in diesen Zusammenhang. Es kam vor, daß eine Meierei in ein chinesisches Dorf und ein chinesisches Dorf in eine Schweizerei umgewandelt wurde, wie es gerade dem vorherrschenden Geschmack entsprach.

Chinesische Brücke im Schwetzinger Schloßpark

Bei den ägyptischen Sphynxen, Obelisken und Pyramiden vermischte sich der exotische Reiz einer fernen, noch gegenständlich erhaltenen Kultur mit der Nostalgie eines längst untergegangenen Reiches. Im Schwetzinger Schloßpark sollte die künstliche Ruine des Merkurtempels ursprünglich ein ägyptisches Grabmal werden. Ein ägyptischer Obelisk schmückte die Stelle, an der man ein "Keltengrab" gefunden zu haben glaubte. Hinzu kam oft noch ein besonderer Symbolgehalt im Sinne freimaurerischer Bestrebungen.

Da das Exotische von ähnlicher psychologischer Qualität wie das Nostalgische war, wurde es in derselben Weise dem Blick entrückt und zugeführt. Vorzüglich eigneten sich Wasserflächen, um die träumerische Distanz herzustellen. Im Schwetzinger Park war es die Wasserfläche desselben Teichs, die auf der einen Seite das nostalgische Motiv des Merkurtempels und auf der anderen Seite das exotische Motiv der türkischen Moschee in unerreichbar scheinende Ferne entrückte.

Im Bemühen, das Gefühl unmittelbarer anzusprechen, wurde die traditionelle Symbolik mehr zum Allegorischen hin verschoben. Zum Beispiel entstand im Schwetzinger Park ein Tempel der Waldbotanik. Dieses Bauwerk war kein bloßes Symbol mehr, das durch den Kanon der Säulenordnung, der Kapitelle, des Frieses, des Architravs, das Statuenschmucks usw. eine bestimmte Bedeutung erhielt. Der Tempel wurde vielmehr in der Form eines runden Baumstumpfs mit rindenartig zerfurchter Oberfläche errichtet. Er appellierte damit unmittelbar an die sinnliche Wahrnehmung bzw. an das Gefühl. Die Architektur wurde zur architecture parlante, die keiner verstandesmäßigen Übersetzung mehr bedurfte.

Dieser Tempel der Waldbotanik zeigt den meisten Geschmack, und ist eine eben so glückliche, als neue Erfindung, meinte der Gartentheoretiker Hirschfeld, als er 1773 in Schwetzingen weilte und den barocken Teil einer scharfen Kritik unterzog. Die sehr gute und sehr schickliche Anlage werde leider durch die beiden Sphynxe am Eingang gestört, die hier ganz unschicklich seien. Auch die beiden Vasen zu Seiten des Tempels seien überflüssig.

In Verbindung mit dem Tempel der Waldbotanik wurde ein Stück des Schwetzinger Schloßgartens in völlig neuer Manier angelegt. Es war jener kleine Bezirk des englischen Gartens, den Hirschfeld in seiner Beschreibung ausdrücklich von der ermüdenden Symmetrie der Gesamtanlage ausnimmt. In diesem relativ kleinen und schmalen, durch eine Mauer abgetrennten Teil verließ nun auch die Natur die geometrische Symbolik des Barockgartens und wurde allegorisch: Sie ahmte nämlich jene arkadische Landschaft nach, die bisher nur aus der Malerei bekannt war. Es war in diesem Abschnitt des Gartens nicht mehr nötig, die Statue eines Pans oder eine Hirtenszene als Symbol für Arkadien zu erkennen. Dem empfindsamen Betrachter erschloß sich die Bedeutung dieses Gartenteils vielmehr ganz unmittelbar. Die Geometrie war hier verbannt. Statt über abgezirkelte Blumen-Rabatten und Bosketts schweifte der Blick über ein sanft hügeliges Gelände mit Rasen, Bäumen und Wasserflächen. Sogar die antike Ruine als Ortsbestimmung für Arkadien war vorhanden: in Form eines verfallenen römischen Aquaedukts, aus dessen geborstenem Kanal das Wasser in den Teich plätscherte.

Dieser englische Gartenteil war das Werk des Gartenarchitekten Ludwig von Sckell, den Kurfürst Carl Theodor mit der weiteren Gestaltung des Schwetzinger Schloßgartens beauftragt hatte. Als Hirschfeld 1773 den Park besichtigte und seine Kritik an der ermüdenden Symmetrie übte, hatte Sckell soeben begonnen, eine große Randzone um den Barockgarten im englischen Stil zu verwandeln. Der Kurfürst hatte ihn persönlich nach England geschickt, damit er die dortige Gartenkunst studiere und in Schwetzingen anwende. Hirschfelds Kritik rannte somit offene Türen ein.

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