PresseBLICK-Rezensionen Politik, Zeitgeschehen



George Soros

Die Krise des globalen Kapitalismus - offene Gesellschaft in Gefahr

300 S., Alexander Fest Verlag, 1998, DM 39.80


George Soros ist der erfolgreichste Spekulant unserer Zeit. Er hat ein Milliardenvermögen gescheffelt, indem er Währungen oder Aktien in jeweils günstigen Momenten kaufte oder abstieß. Zum Teil hat er die Veränderungen des Marktes nicht bloß antizipiert, sondern selber herbeigeführt. So brachte er 1992 durch gezielte Spekulation auf Abwertung des britischen Pfunds das Europäische Währungssystem zu Fall. Bei der jüngsten Treibjagd auf die thailändische Währung hatte er ebenfalls die Finger mit im Spiel.

Als Spekulant genießt Soros den Ruf, ganze Volkswirtschaften zu meucheln und Millionen Menschen in den Abgrund zu stürzen. Er gilt gewissermaßen als Mr. Hyde der Finanzwelt.

Aber da ist auch noch der ehrbare Dr. Jekyll, die andere Seite des George Soros: Schon seit vielen Jahren betätigt er sich, wenn er nicht gerade als Mr. Hyde auf den Finanzmärkten unterwegs ist, als Menschenfreund und Verfechter des Allgemeinwohls. Einen großen Teil seines Vermögens steckte er in Stiftungen, um die "offene Gesellschaft" im Sinne des Philosophen Karl R. Popper (siehe PB 8/96) zu propagieren. Unter anderem hat er auf diese Weise mitgeholfen, den Zusammenbruch des kommunistischen Systems zu beschleunigen.

Inzwischen ist es zehn Jahre her, seitdem das östliche Imperium kollabierte. Anstelle einer offenen Gesellschaft, wie Soros hoffte, haben sich aber in den SU-Nachfolgestaaten Chaos, Korruption, Verbrechen, brutale Raffgier und massenhaftes Elend breitgemacht. Und auch im Westen leidet die offene Gesellschaft unter merkwürdigen Befindlichkeitsstörungen, seitdem der Druck des totalitären Gegners von ihr gewichen ist. Soros beobachtet hier wie dort die Tendenz zu einem "Raubkapitalismus", der nicht nur die wünschenswerte offene Gesellschaft, sondern die Grundlagen des kapitalistischen Weltsystems überhaupt bedrohe.

Die Ideologie des "Marktfundamentalismus" sei inzwischen so mächtig, daß alle politischen Kräfte, die sich ihm zu widersetzen wagen, kurzerhand als sentimental, unlogisch oder naiv gebrandmarkt würden. In Wahrheit sei aber der Marktfundamentalismus selbst naiv und unlogisch.

Der Kult um den Shareholder value als Symptom

Noch zu seiner Studentenzeit, in den fünfziger Jahren, sei die Ideologie des "laissez faire" verpönter gewesen als es staatliche Eingriffe ins Wirtschaftsgeschehen heute sind. Der Schock der Weltwirtschaftskrise von 1929 habe damals noch nachgewirkt. Die Vorstellung, der Laissez-faire-Kapitalismus könnte ein Comeback feiern, wäre damals allen nur abstrus erschienen. Etwa seit den achtziger Jahren aber, als Ronald Reagan und Margaret Thatcher an die Macht kamen, werde die Politik von einem neuen Marktfundamentalismus beherrscht, der das Hauptziel staatlichen Handelns im Erreichen und Aufrechterhalten monetärer Stabilität sieht. Damit einhergegangen sei die Ablehnung der Theorien Keynes, der in den dreißiger Jahren den Monetarismus in Mißkredit brachte und im Unterschied zu den meisten anderen Ökonomen die Bedeutung "reflexiver" Phänomene sehr wohl erkannt habe. Stattdessen habe Milton Friedman den Monetarismus gewissermaßen neu erfunden. Nach der Auflösung des Systems von Bretton Woods seien die internationalen Finanzmärkte immer stärker dereguliert und globalisiert worden - mit dem Ergebnis, daß sie in den Krisen von 1982, 1987, 1994 und 1997 schon mindestens viermal zusammengebrochen wären, wenn die verschiedenen Währungshüter und Behörden nicht eingegriffen hätten.

Für Soros ist diese Wiedergeburt des Marktfundamentalismus "nur durch den Glauben an die Macht der Magie" zu erklären. Im Hintergrund spuke dabei wohl auch noch immer die Ansicht des Adam Smith herum, daß eine Art unsichtbarer Hand über dem Marktgeschehen walte und die Vielzahl individueller Egoismen zum Allgemeinwohl zusammenfüge. Natürlich würden die Argumente zugunsten unregulierter Märkte selten in so schlichter Form vorgetragen. Stattdessen würden voluminöse Statistiken und komplizierte mathematische Modelle bemüht. Letztlich seien alle diese Modelle aber doch reichlich obskur. Sie erinnerten ihn "an die angestrengten theologischen Debatten, bei denen es etwa um die Frage ging, wieviele Engel auf einer Nadelspitze tanzen können".

Eine Folge des Markfundamentalismus sei, daß für Unternehmen die Signale der Finanzmärkte mehr zählen als die der Produktmärkte: "Bereitwillig veräußern die Manager einen Unternehmensbereich, wenn dies den Shareholder-value erhöht; sie maximieren den Gewinn anstelle des Marktanteils." Der Erfolg werde an immer kurzfristigeren Leistungen gemessen. Die Börsen neigten dazu, solchen Unternehmen entgegenzukommen, die sich im Zeichen der Shareholder-value-Ideologie völlig der Profitmaximierung verschreiben. Durch die Abkoppelung der Finanzsphäre von der realen Wertschöpfung im Produktionsbereich gingen den Anlegern die objektiven Maßstäbe verloren. Ersatzweise stürzten sich Hedge-Fonds und andere Investoren wie die Lemminge auf mutmaßliche Trends, die sie dann selber verstärken, bis die Achterbahn des irrationalen Börsengeschehens ihren Scheitelpunkt erreicht hat und wieder nach unten saust.

Hausse und Baisse an den Finanzmärkten - oder "Boom" und "Bust", wie Soros schreibt - verhielten sich aber nicht wie ein Pendel, das um einen Ruhepunkt schwingt, sondern eher wie eine Abrißbirne, die von Land zu Land schwingt und die schwächeren Märkte zusammenbrechen läßt. Überhaupt sei es ein fundamentaler Irrtum der Ökonomen, wenn sie davon ausgingen, daß sich das Auf und Ab des Marktes irgendwie wechselseitig austariere und letztlich zu einem Zustand des Gleichgewichts führe. Diese alte Vorstellung sei Newtons Mechanik entlehnt und beweise lediglich, auf welchen Irrweg sich die Ökonomen begeben, wenn sie den Naturwissenschaften nachzueifern versuchen. Zweifellos besser sei da in mancher Hinsicht noch immer die "hervorragende Analyse des kapitalistischen Systems", die Karl Marx und Friedrich Engels vor 150 Jahren lieferten, indem sie den Kapitalismus als ein grundsätzlich instabiles, alle traditionellen Bindungen zerstörendes und sich am Ende selber aufhebendes System begriffen. - Zugegeben, das von ihnen verschriebene Heilmittel in Form des Kommunismus sei schlimmer als die Krankheit gewesen. Der Hauptgrund dafür, daß sich ihre Voraussagen über die letztendliche Selbstzerstörung des kapitalistischen Systems nicht bewahrheiteten, habe jedoch in der Ausgleichs- und Interventionspolitik demokratischer Länder gelegen.

Ätzende Kritik an Wirtschaftswissenschaften:"Als moderne Alchemie erfolgreich"

Mit der Souveränität des erfolgreichen Praktikers, der jeden Ökonomie-Professor oder sonstigen Wirtschaftsweisen in den Senkel stellt, übt Soros ätzende Kritik am Erkenntniswert und praktischen Nutzen der Wirtschaftswissenschaften. Überhaupt hält er sehr wenig von allen "Sozialwissenschaften": Die Versuche von Ökonomen, Soziologen, Politologen oder Psychologen, die Naturwissenschaften nachzuahmen, seien grundsätzlich zum Scheitern verurteilt und mitunter von einer unfreiwilligen Komik. Da sie mit dem Anspruch auf wissenschaftliche Fundiertheit aufträten, seien ihre Theorien und Thesen aber keineswegs folgenlos. Das unterscheide ihr Gewerbe von der mittelalterlichen Alchemie, die mit dem Versuch, unedle Metalle in Gold zu verwandeln, zwangsläufig an den Gesetzen der Natur scheitern mußte.

Man könne heute auf den Finanzmärkten sehr reich und in der Politik sehr mächtig werden, wenn man im Mantel der Wissenschaft falsche Theorien fabriziere oder "selffulfilling prophecies" verbreite. Das Ansehen, welches die modernen Wirtschaftswissenschaftler insbesondere in der Politik und auf den Finanzmärkten genössen, lasse sich jedenfalls nicht mit dem Erkenntniswert ihrer Theorien begründen. Eher zeige sich darin, "daß die mittelalterlichen Alchemisten aufs falsche Pferd setzten". Oder noch sarkastischer: "Die Alchemie ist als Wissenschaft gescheitert, die Sozialwissenschaft dagegen als Alchemie erfolgreich."

Diesem Dilemma der Sozialwissenschaften sei auch nicht mit besseren Methoden, Theorien oder intensiverer Forschung beizukommen. Das Scheitern liege im Gegenstand begründet: Sie hätten es eben nicht mit vom Menschen unbeeinflußbaren Gesetzmäßigkeiten zu tun, wie die Naturwissenschaften, sondern mit dem menschlichen Denken und Handeln, dem sie ihre eigene Entstehung verdanken und auf das sie zurückwirken. Wegen dieser "Reflexivität" könnten die Sozialwissenschaften niemals denselben Status wie die Naturwissenschaften erlangen, so sehr sie sich auch bemühten, diesen mit mathematisch-statistischen Methoden oder durch betonten Verzicht auf Werturteile nachzueifern. Auch die "Falsifizierbarkeit", die Popper zum Kriterium wissenschaftlicher Aussagen erhob, biete keinen Schutz davor, daß Theorien der Wirtschaftswissenschaften für politische Zwecke genutzt werden. So sei es gerade der Verzicht auf Werturteile gewesen, der die Ideologie des Marktfundamentalismus begünstigt und die Grundlage für das umfassendste aller Werturteile geliefert habe: die Behauptung, daß sich nirgendwo bessere Ergebnisse erzielen lassen als unter den Bedingungen der Marktkonkurrenz.

Aus der Sicht von Soros wären die Sozialwissenschaften gut beraten, wenn sie sich wieder auf ihr altes Selbstverständnis als Geisteswissenschaften besinnen würden. Mit der sklavischen Imitation der Naturwissenschaften würden sie ihre spezifische Aufgabe verkennen, die nun mal in der Berücksichtigung des "reflexiven" Moments besteht. Jedenfalls müsse man allen Ökonomen und sonstigen Sozialwissenschaftlern sofort auf die Finger klopfen, wenn sie für ihre anfechtbaren Thesen quasi naturwissenschaftliche Autorität beanspruchen wollten.

Im Unterschied zu den "Ideologen des Marktfundamentalismus" ist Soros nicht der Meinung, daß Demokratie und Kapitalismus sozusagen Hand in Hand gingen. In seiner Sicht braucht der Kapitalismus die Demokratie als Gegenspieler: Das kapitalistische System sei in sich labil. Ohne einen mächtigen politischen Gegenspieler, der die Profitmaximierung in sozialverträgliche Bahnen lenkt, gerate es schnell aus dem Gleichgewicht. Es bedürfe ferner einer Erneuerung der Moral und der gesellschaftlichen Grundwerte.

Soros kündigt dem Neoliberalismus die Erbpacht für Poppers Konzept der offenen Gesellschaft

Die An- und Einsichten, die Soros in seinem Buch vorträgt, sind an sich nichts neues. Die grundsätzliche Überlegung, daß der Kapitalismus alles zur Ware macht und deshalb mit den gesellschaftlichen Wertvorstellungen seine eigene Basis untergräbt, findet sich bereits bei Marx und Engels. Das Bild vom wild dahinrasenden Kapitalismus, der allenfalls durch politische Gegenkräfte wie die Arbeiterbewegung gebändigt und so von der eigenen Zerstörung abgehalten werden kann, entwarf zu Anfang des 20. Jahrhunderts bereits der deutsche Nationalökonom Werner Sombart. Das von Soros hervorgehobene "reflexive" Moment aller Gesellschafts- und Geisteswissenschaften ist seit Hegel in Gestalt der Dialektik geläufig. Die bizarre Verselbständigung der Finanzmärkte von der Sphäre der realen Wertschöpfung und die dadurch verursachte Labilität der Weltwirtschaft wird derzeit ebenfalls von vielen anderen Autoren kritisiert.

Bemerkenswert an diesem Buch ist indessen zweierlei: Zum einen schreibt hier jemand, der wie kein anderer von jenem System profitiert hat, das er nunmehr kritisiert und für eine verhängnisvolle Fehlentwicklung hält. Man wird Soros jedenfalls nicht vorhalten können, daß aus seiner Kritik des ungebremsten Marktes nur wieder mal der "Sozialneid" von Besitzlosen spreche, die nicht clever genug sind, die Spielregeln zum eigenen Vorteil zu nutzen.

Zum anderen - und das ist noch bemerkenswerter - verbindet Soros seine Kritik am Neoliberalismus mit dem ausdrücklichen Bekenntnis zur offenen Gesellschaft im Sinne Poppers. Bisher schien es nämlich so, als ob die Neoliberalen den Begriff der offenen Gesellschaft geradezu in Erbpacht genommen hätten. Und das keineswegs willkürlich: Der Stammvater der neoliberalen Ökonomie, Friedrich August von Hayek, war der wichtigste Mentor Poppers und hat das Erscheinen von dessen Buch über "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" überhaupt erst ermöglicht. Popper wiederum bekennt in seiner intellektuellen Autobiographie (PB 8/96), daß Hayek für ihn gleich zweimal die Rolle des "Lebensretters" gespielt habe.

Soros kündigt nun diesen Erbpacht-Vertrag, der das Konzept der offenen Gesellschaft mit der neoliberalen Schule der Ökonomie verband und dieser den philosophischen Unterbau lieferte. Bei allem Respekt vor Popper und auch vor Hayek hält er das ursprüngliche Konzept der offenen Gesellschaft für nicht mehr ausreichend, weil es unter anderen Voraussetzungen entwickelt wurde: Auf der einen Seite sind mittlerweile die totalitären Feinde der offenen Gesellschaft in Gestalt des Nationalsozialismus und des Kommunismus entfallen, auf die der Titel von Poppers Buch zielte. Auf der anderen Seite ist der offenen Gesellschaft aus der Sicht von Soros ein mächtiger neuer Feind in Gestalt des Marktfundamentalismus entstanden - eines Marktfundamentalismus, von dem sich die Welt soeben verabschiedet hatte, als der vor den Nazis geflohene Popper seine Überlegungen im fernen Neuseeland zu Papier brachte.

Fazit: Zwei Seelen wohnen, ach, in der Brust des George Soros, der als moderner Faust seinen Pakt mit den mephistophelischen Mächten der Finanzwelt geschlossen hat. Ob seine Liebe zu Gretchen in diesem Fall stärker sein wird? Oder wird das Gretchen namens offene Gesellschaft mit ins Verderben gerissen? - Wir werden es vielleicht irgendwann erfahren, aber hoffentlich nicht so schnell.

(PB 2/99/*leu)