PresseBLICK-Rezensionen Politik, Zeitgeschehen



Robert B. Reich

Die neue Weltwirtschaft - Das Ende der nationalen Ökonomie

415 Seiten, DM 19.90, Fischer Taschenbuch 1997


Der Verfasser gilt als einer der führenden Ökonomen der USA. Noch bekannter wurde er als Arbeitsminister im ersten Kabinett des US-Präsidenten Clinton. Reich repräsentierte die Hoffnungen auf einen sozialpolitischen Kurswechsel, die Clinton als demokratischen Präsidentschaftskandidaten begleiteten. Clinton hat diese Hoffnungen größtenteils enttäuscht. Nach seiner Wiederwahl 1996 war Reich nicht mehr im Kabinett vertreten. Wie es einem kritischen Kopf ergeht, der im Getriebe des politischen Opportunismus scheitert, hat Reich in einer Art Tagebuch beschrieben, das soeben unter dem Titel "Locked in the Cabinet" erschien.

Hier soll jedoch von einem anderen Werk die Rede sein, das bereits 1991 unter dem Titel "The Work of Nations" herauskam und 1993 ins Deutsche übersetzt wurde. Die vorliegende Neuerscheinung ist eine Taschenbuch-Version der deutschen Hardcover-Ausgabe. Die Lektüre lohnt nach wie vor, zumal die Thesen Reichs erst mit der üblichen Verzögerung auch bei uns diskutiert werden. Zum Beispiel hat sich Viviane Forrester, deren "Terror der Ökonomie" im vorigen PresseBLICK besprochen wurde, von Reichs "überaus weitsichtigen Analysen" inspirieren lassen, obwohl sie seine Schlußfolgerungen eher für "alte Hüte" hält.

In der Tat ist Reichs Buch über die neue Weltwirtschaft eine typisch amerikanische Mischung aus illusionslosem Pragmatismus und blauäugigem Optimismus: Illusionslos konstatiert er die Globalisierung von Märkten, Kapital und Dienstleistungen, die mit den nationalen Märkten und Unternehmen auch den ganzen Begriff der "Nationalökonomie" obsolet machen. Ziemlich blauäugig muten dagegen seine Rezepte an, wie Individuen und Staaten den damit verbundenen Gefahren begegnen könnten.

Reich konstatiert eine wachsende soziale Polarisierung der US-amerikanischen Gesellschaft, die tendenziell für alle Industriegesellschaften gilt: Die Kluft zwischen Armen und Reichen werde immer größer. Zum Beispiel habe 1960 der Spitzenmanager eines US-Konzerns brutto etwa das Vierzigfache und netto das Zwölffache eines Fabrikarbeiterlohns bezogen. Heute könne er brutto 93mal und netto siebzigmal mehr kassieren. - Für die Manager sicher sehr erfreulich. Unter gesellschaftspolitischen Gesichtspunkten aber eine gefährliche Schieflage, weil sich die gut situierte Mittelschicht als wichtigste Stütze des "american way of life" aufzulösen beginnt. Die scheinbar gute Arbeitsmarktlage in den USA dürfe nicht darüber hinwegtäuschen, daß immer mehr Jobs aus unqualifizierten, schlecht bezahlten Tätigkeiten bestehen, die oft nicht einmal den Lebensunterhalt ermöglichen.

Die Globalisierung der Märkte verträgt sich nicht mit der Vorstellung vom "gemeinsamen Boot"

Früher hätten alle Amerikaner, wirtschaftlich gesehen, mehr oder weniger im selben Boot gesessen: Gewiß seien schon damals die Leute am Steuer besser bezahlt worden als diejenigen, welche die harte Arbeit des Ruderns verrichteten. Insgesamt sei man jedoch, vom Arbeiter bis zum Vorstandsvorsitzenden, gemeinsam gestiegen und gefallen, je nachdem, wie es gerade dem einzelnen Unternehmen, der jeweiligen Branche oder der gesamten Volkswirtschaft erging. Die Globalisierung der Märkte und Unternehmen habe inzwischen diese Gemeinsamkeit zerstört. Nun werde das wirtschaftliche Los des einzelnen nicht mehr allein innerhalb der Grenzen des Landes bestimmt, sondern hänge immer mehr davon ab, wie seine Talente und Fähigkeiten innerhalb der globalen Wirtschaft bewertet werden. Konkret bedeute dies beispielsweise, daß ein amerikanischer Datenverarbeiter brotlos wird, wenn ein indischer Kollege in Bangalore dieselbe Arbeit für einen Bruchteil des US-Lohns erledigt. Denn in welchem Teil der Welt solche Routinearbeiten erledigt werden, spiele im Zeitalter der globalen Massenkommunikation keine Rolle mehr.

Am Beispiel des Telefonunternehmens AT & T veranschaulicht Reich, wie selbst Billiglohn-Länder nicht davor gefeit sind, das Opfer dieser Entwicklung zu werden: Bis Ende der siebziger Jahre ließ AT & T seine Standard-Fernsprecher ausschließlich in den USA montieren. Anfang der achtziger Jahre ging das Unternehmen dazu über, dieselbe Aufgabe von Arbeitskräften in Singapur viel billiger erledigen zu lassen. Aber schon Ende der achtziger Jahre stoppte es die Produktion in Singapur, um in Thailand noch billigere Arbeitskräfte anzuwerben.

Statt des gemeinsamen Bootes - eine Metapher, die auch bei uns gern zur Popularisierung der Idee der sozialen Marktwirtschaft verwendet wird - sieht Reich mindestens drei Boote auf den stürmischen Wellen der Weltwirtschaft dahintreiben: In dem einen, das rasch sinkt, sitzen die Arbeitskräfte der "Routineproduktion". Im zweiten, das langsamer sinkt und ungleichmäßig leckt, kämpfen die "Dienstleistenden" ums Überleben. Nur das dritte Boot kommt flott voran: Es ist das Boot mit den sogenannten "Symbol-Analytikern", denen weltweit die Zukunft gehört.

Die Zukunft gehört den "Symbolanalytikern"

Wer bei dem seltsamen Begriff "Symbol-Analytiker" spontan an Kaffeesatz-Leser oder Psychoanalytiker denkt, liegt nicht ganz schief, denn auch diese umstrittenen Metiers gehören irgendwie dazu. Für Reich umfaßt diese Kategorie eine bunte Palette von Leuten, die sich auf das Identifizieren und Lösen von Problemen sowie "strategische Vermittlungstätigkeiten" spezialisiert haben: Als Beispiele nennt er Forschungswissenschaftler, Design-, Software- und Bauingenieure, Biotechnologen, Toningenieure, PR-Manager, Investment-Banker, Anwälte und Baulanderschließer. Auch "ein paar kreative Bilanzbuchhalter" befänden sich darunter. Des weiteren gehöre ein Großteil der Tätigkeiten dazu, die von Management-, Finanz-, Steuer-, Energie-, Landwirtschafts-, Rüstungs- und Architekturberatern, Spezialisten auf den Gebieten Information von Führungskräften und betriebliche Entwicklung, von strategischen Planern, Personalvermittlern und Kostenanalytikern ausgeübt werden. Ferner: Werbemanager und Marketing-Strategen, Chefgrafiker, Architekten, Kameraleute, Cutter, Produktionsdesigner, Verleger, Schriftsteller und Lektoren, Journalisten und Redakteure, Musiker, Fernseh- und Filmproduzenten - "und sogar Universitätsprofessoren", beendet er selbstironisch seine Aufzählung.

Also alles Berufe, die außerhalb routinemäßiger Produktionsarbeiten und Dienstleistungen liegen. Gefragt sind demnach Problemlöser, Problemdeuter, Sinnstifter, Vermittler, Strategen, Impresario-Typen. Das Heil des einzelnen wie ganzer Nationen liegt nach Reich darin, sich für solche Tätigkeiten zu qualifizieren. Vier Fünftel der Amerikaner zählten sicher nicht zu dieser Avantgarde. Gleichwohl verfüge derzeit kein anderes Land über "ähnliche Anhäufungen von bereits fest etablierten Symbol-Analytikern, die in der Lage sind, fortwährend und ganz informell voneinander zu lernen". Diesen Vorsprung gelte es auch in Zukunft zu behalten. Die USA oder auch andere Nationen müßten deshalb verstärkt auf die Förderung symbolanalytischer Fähigkeiten setzen und ihr Bildungswesen in diesem Sinne ausrichten. So könne es ihnen dann auch gelingen, der Globalisierung der Wirtschaft zu trotzen und innerhalb des nationalen Rahmens einen insgesamt höheren Lebensstandard zu bewahren.

Das klingt ein bißchen wie die Warnung vor der "Bildungskatastrophe", die uns einmal in den sechziger Jahren prognostiziert wurde. Dank massiver Anstrengungen zur Abwendung des Unheils brauchen inzwischen selbst Lehrlinge oft schon das Abitur, und die Universitäten klagen über den Ansturm von Studenten, die zu wissenschaftlicher Arbeit unfähig sind.

Vermutlich wäre es ganz ähnlich, wenn zahllose Amerikaner, die sich bisher mit dem High School-Abschluß oder einem College-Diplom begnügen, an Elite-Universitäten wie Harvard und Stanford strömen würden, um sich die von Reich geforderten symbolanalytischen Fähigkeiten anzueignen. - Aber eigentlich ist das eine völlig unrealistische Vorstellung, da gerade in den USA eine gute Ausbildung sündhaft teuer ist. Zuerst müßte es den USA gelingen, die Vertiefung der Einkommensunterschiede und die Pauperisierung großer Teile der Mittelschicht zu verhindern, die Reich ebenfalls beklagt.

(PB 9/97/*leu)