PresseBLICK-Rezensionen Stromwirtschaft



Helmut Schaefer (Hg.)

VDI-Lexikon Energietechnik

Düsseldorf 1994: VDI-Verlag, 1451 S., DM 248.- (bis 31.12.94, danach DM 298.-)


Noch dicker hätte dieses Lexikon sicher nicht werden dürfen. Es umfaßt schon jetzt über 1450 Seiten, die von einem 6,5 Zentimeter breiten Buchrücken zusammengehalten werden. Trotz der soliden Ausstattung stößt ein solches Werk an die Grenzen der Handhabbarkeit.

Der Herausgeber scheint vom Umfang der Materie selbst überrascht worden zu sein. Im Vorwort bedauert er, daß mit Rücksicht auf die Handhabung und den Preis die Darstellung zahlreicher Fachgebiete habe entfallen müssen. Im einzelnen handele es sich dabei um Geochemie, Elektrizität, Plasmaphysik, Kernphysik und -chemie, Radiochemie, thermische Verfahrenstechnik, technische Zuverlässigkeit, Vereine und Verbände, Wärmetechnik, technische Regelwerke, Gesetze und Verordungen, Meß- und Regelungstechnik, Leittechnik, Werkstoffe sowie energietechnische Hauptstichwörter der Physik und Chemie.

Das ist fürwahr eine ganze Latte von Fachgebieten, die mit der Energietechnik untrennbar verbunden sind. Man wird deshalb an dieses Werk nicht mit falschen Erwartungen herangehen dürfen. Oder besser gesagt: Die an sich richtige - weil naheliegende - Erwartung, ein umfassendes Lexikon zur Energietechnik vor sich zu haben, wird sich schnell in Irritation verwandeln, wenn man die einschränkenden Hinweise im Vorwort überliest.

Grundlagenwissen wird vorausgesetzt

So darf man nicht hoffen, einen elektrotechnischen Grundbegriff wie Spannung nochmals kurz definiert zu bekommen. Stattdessen finden sich die Stichwörter Spannungsabfall in Stromrichterschaltungen, Spannungsfall, Spannungskonstanz, Spannungslage, Spannungssack, Spannungssteuerung, Spannungstrichter, Spannungswelligkeit, Spannungszeitfläche und Spannungszwischenkreis. Also sehr spezielle Begriffe der Energietechnik, bei denen das zugrundeliegende Vokabular der Elektrotechnik einfach vorausgesetzt wird.

Das kleine Einmaleins der Elektrotechnik wäre zu verschmerzen. Es fehlt aber auch jenes große Einmaleins, ohne das kein Energietechniker auszukomen vermag. Wer zum Beispiel wissen will, was es mit dem Blindstrom auf sich hat, weshalb Kabeltechniker sich mit der Blindleistung herumschlagen oder was die Wirkleistung eines Motors von der Scheinleistung unterscheidet, wird ebenfalls nicht fündig. Dieses Wissen muß er mitbringen oder sich woanders besorgen. Das Werk gibt nur spezielle Auskünfte über Blindleistungskompensation, Blindleistungsmaschine, Blindleistungsregelung, Blindleistungsstromrichter, Blindstromkompensation und Wirkleistungsregelung.

Mitunter taucht ein allgemeines Stichwort der Elektrotechnik dann doch auf, wird aber nur unter einem speziellen Aspekt behandelt: So beschränken sich die Ausführungen zum Stichwort Blindleistung auf den Hinweis, daß diese auch für die Kommutierung von Stromrichterventilen und für die Phasenanschnittssteuerung benötigt werde.

Fehlanzeige bei Stichwörtern wie Turbine oder Dampfmaschine

Außerhalb der elektrischen Energietechnik stößt man auf ähnliche Lücken. Sogar Stichwörter wie Turbine oder Dampfmaschine sucht man hier vergebens. Sie scheinen - wie der Stirling-Motor - dem angekündigten Verzicht auf die Darstellung der thermischen Verfahrenstechnik zum Opfer gefallen sein. Aber dann tauchen sie beiläufig doch auf, und zwar im Kontext des Stichworts Dampfkraftwerk. Es wird sogar kurz die Entwicklung von der Dampfmaschine zur Dampfturbine geschildet. Aber nicht systematisch, also mit Blick auf das technische Prinzip dieser Wärmekraftmaschinen, sondern mit Blick auf das Dampfkraftwerk, über das sich nun mal schlecht schreiben läßt, wenn sein technisches Herzstück unerwähnt bleibt.

Dem Generator - immerhin - billigt das Lexikon ein eigenes Stichwort zu. Ebenso dem Turbogenerator. der entweder von einer -> Dampfturbine oder -> Gasturbine angetrieben werde. Beide Turbinenarten sind also durch Verweise als eigene Stichwörter kenntlich gemacht. So scheint man sich, quasi durch die Hintertür, über Unterbegriffe doch noch der Turbine nähern zu können. Beim Nachschlagen wird man dann jedoch nur die Gasturbine finden. Das avisierte Stichwort Dampfturbine existiert nicht. Die dritte und älteste der Strömungsmaschinen, die Wasserturbine, taucht ebenfalls nicht als Stichwort auf. Etliche Ausführungen zur Wasserturbine wird man dann aber doch - ähnlich wie bei der Dampfturbine, die sich unter Dampfkraftwerk verbirgt - unter "Wasserkraftnutzung" finden (ein Glück, daß beide Stichwörter alphabetisch nicht weit auseinanderliegen).

So bleibt es oft dem detektivischen Gespür des Lesers überlassen, wo er vielleicht doch einige Anmerkungen zu einem Stichwort findet, das als solches nicht vorhanden ist. Oft bleibt aber auch alle Suche vergebens. Zum Beispiel nach der "Kavitation", die bei hohen Rotationsgeschwindigkeiten infolge Unterdrucks an den Laufradschaufeln von Turbinen entsteht und sie rauh, porös und schließlich löchrig macht. Ein energietechnisches Problem von erheblicher Bedeutung. An der fraglichen Stelle findet man aber nur das Stichwort "Kavernenkraftwerk". Liest man den dazugehörigen Text durch, entdeckt man allerdings - wie zum Hohn - den beiläufigen Hinweis, daß die unterirdische Plazierung von Wasserkraftwerken eine "kavitationsvermeidende" Wirkung habe.

Unverhofft taucht dafür manches Stichwort auf, das man aufgrund der angekündigten Beschränkungen eigentlich nicht erwartet hätte. So hat die "IEA" (Internationale Energie-Agentur) den Verzicht auf "Vereine und Verbände" unbeschadet überstanden. Sogar der "Elektrounfall" und das dabei auftretende "Herzkammerflimmern" werden mit eigenen Stichwörtern berücksichtigt, obwohl sie eher in den medizinisch-physiologischen Bereich gehören.

Die Erläuterungen zu den Stichwörtern zeugen von hoher Kompetenz, wie man sie von einem VDI-Lexikon erwarten darf. Sie lassen aber teilweise die von Lexika gewohnte Konzision vermissen, indem sie erst auf Umwegen zur Sache kommen. So folgen dem Stichwort Braunkohlenausschuß zunächst allgemein gehaltene Ausführungen über Grundlagen des Bergrechts und die zuständigen Behörden. Das eigentliche Stichwort wird erstmals in der 35. Zeile aufgegriffen: "Der B. besteht in der BRD nur in Nordrhein-Westfalen..." - Vier Jahre nach der deutschen Vereinigung stimmt das so allerdings nicht mehr. Inzwischen gibt es in Brandenburg ebenfalls einen Braunkohlenausschuß.

Nicht ganz up to date sind auch die Erläuterungen zur Benutzung, in denen von "fettgedruckten" Einzel-Verweisen die Rede ist. In Wirklichkeit sind die Verweise kursiv gedruckt. Eine Kleinigkeit , die aber mit anderem den Eindruck erweckt, als habe das Lektorat manchmal etwas die Übersicht verloren.

Ein kleines Heer von Fachleuten hat hier im einzelnen hervorragende Arbeit geleistet. Das Autorenverzeichnis weist nahezu hundert Namen aus, darunter die Crème aus Hochschulen, Industrie, Instituten und einschlägigen Verwaltungen. An sich sind das ideale Voraussetzungen, um ein Kompendium der Energietechnik zusammenzustellen. Allerdings sind Experten nicht unbedingt Lexikographen. Es ist schon so, wie der Herausgeber im Vorwort schreibt: "Eine lexikographische Behandlung des Themas Energietechnik stellt eine sehr große Herausforderung dar, weil die unterschiedlichsten Fachdisziplinen mit diesem Begriff in komplexer Weise verknüpft sind." Diese Verknüpfung scheint im vorliegenden Fall nicht hundertprozentig gelungen. Vor allem fehlt es an wichtigen Stichwörtern. Oft würde es schon reichen, die bei anderen Stichwörtern enthaltene Information durch entsprechende Verweise zu erschließen. Sie würde damit auch solchen Lesern zugänglich, die nicht wissen können, daß sie einen Allgemeinbegriff wie "Turbine" am ehesten unter "Dampfkraftwerk" oder einen Spezialbegriff wie "Francis-Turbine" am ehesten unter "Wasserkraftnutzung" oder "Hochdruckanlage" finden. Zumindest sollte ein detailliertes Verzeichnis solcher Begriffe, die zwar im Text auftauchen, aber nirgends als Stichwort den direkten Zugang ermöglichen, der nächsten Auflage im Anhang beigefügt werden - auch auf die Gefahr hin, daß damit das sehr umfängliche Werk noch um ein paar Seiten anschwillt.

Ein Nachschlagewerk für Spezialisten

Fazit: Dieses VDI-Lexikon ist für Fachleute der Energietechnik verfaßt und für diese sicher sehr nützlich, wenn es um eine der speziellen Fragen geht, die in den rund 4000 Stichwörtern behandelt werden. Wer aber eher an Grundlagen der Energietechnik interessiert ist, dürfte damit seine Schwierigkeiten haben. Das gilt zum Beispiel für Ingenieure anderer Fachrichtungen oder technisch interessierte Laien. Es eignet sich deshalb auch nur bedingt als Nachschlagewerk für solche Mitarbeiter der EVU, die im kaufmännisch-betriebswirtschaftlichen Bereich tätig sind und einen Blick über den innerbetrieblichen Zaun auf die energietechnischen Grundlagen der Branche werfen möchten. Allerdings könnten sie das Werk bei einzelnen Fragen zur vertiefenden Information mit Gewinn heranziehen. Zum Beispiel in Kombination mit dem fünfbändigen "Brockhaus Naturwissenschaften und Technik", der komplett inzwischen schon für rund hundert Mark angeboten wird. In diesem handlichen, informativen und preisgünstigen Nachschlagewerk findet man die meisten Stichwörter zu den Grundlagen der Energietechnik, auf die in dem vorliegenden Lexikon aus nicht immer einsichtigen Gründen verzichtet wurde.

(PB 8/94/*leu)