Udo Leuschner / Geschichte der FDP (36)

14. Bundestag 1998 - 2002


Wahlziel 18 Prozent

Die FDP entdeckt die Kraft des positiven Denkens / Westerwelle wird Parteivorsitzender

Nach den Wahlerfolgen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen herrschte auf dem 51. Bundesparteitag der FDP am 16./17. Juni 2000 in Nürnberg eine deutlich zuversichtlichere Stimmung als auf dem vorangegangenen Parteitag in Bremen. Die Kritiker des Bundesvorstands, die sich diese Wahlerfolge in erster Linie zuschreiben durften, traten nun noch selbstbewußter auf. Sie vermieden aber eine offene Konfrontation, da personalpolitische Fragen auf diesem Bundesparteitag nicht anstanden und die Delegierten solchen innerparteilichen Hickhack nicht schätzten.

Der FDP-Vorsitzende Wolfgang Gerhardt sparte seinerseits nicht mit Lob für die beiden Wahlsieger Kubicki und Möllemann, um ihnen dann - ohne die beiden namentlich zu erwähnen - die Leviten zu lesen: "Wir werden nicht nach außen überzeugend wirken, wenn wir uns innerparteilich Sand ins Getriebe streuen", mahnte er die Frondeure. "Manche mögen meinen, es schadet nicht, dem Vorsitzenden ein paar Mal gegen das Schienbein zu treten. Aber viele spüren, daß es uns allen auf Dauer nicht gut bekommt, unsere Ziele beeinträchtigt und unsere Kräfte vergeudet."

Daß die FDP gegenüber der CDU ihre Unabhängigkeit stärker betonen und prinzipiell auch zu einer Koalition mit der SPD bereit sein müsse, war inzwischen kein Thema mehr. Dafür schieden sich die Geister an der Frage, wie das Ziel einer erneuten Regierungsbeteiligung am besten zu erreichen sei. Gerhardt setzte auf den weiteren Verfall der Grünen, der es der FDP ermöglichen werde, wieder den angestammten dritten Platz im Parteiengefüge einzunehmen. Die aktuellen Wahlergebnisse der Grünen, die wie die gesamte rot-grüne Koalition einen Fehlstart hingelegt hatten, waren in der Tat nicht gut. "Die Grünen haben solange für bedrohte Tierarten gekämpft, daß sie selbst zu einer geworden sind", spottete Gerhardt.

Möllemann wirbt für 18 Prozent als Ziel bei Bundestagswahl

Der nordrhein-westfälische Wahlsieger Möllemann griff dagegen gleich nach den Sternen, indem er das Rednerpult mit dem Schild "18 Prozent" dekorierte und dies als Ziel der FDP für die bevorstehenden Bundestagswahlen proklamierte. Dahinter mochte die Überlegung stehen, daß sich die Partei umso mehr anstrengen und Erfolg haben werde, je höher die Meßlatte hängen würde. In Anbetracht aller bisherigen Wahlergebnisse der FDP handelte es sich aber um reines Wunschdenken. Man konnte fast meinen, Möllemann habe seinen Einfall aus einem jener obskuren Bücher bezogen, die der "Kraft des positiven Denkens" wundersame Fähigkeiten zuschreiben. Dazu paßte Möllemanns weitere Idee, die FDP brauche - um sich "in Augenhöhe mit den Großen" bewegen zu können - anstelle eines Spitzenkandidaten dieses Mal einen "Kanzlerkandidaten".

Dieser Vorschlag zielte ebenfalls gegen den biederen Gerhardt, der in der Rolle eines Kanzlerkandidaten der FDP, der 18 Prozent anpeilt, nur eine seltsame Figur abgegeben hätte. Über hinreichend komödiantische Fähigkeiten verfügten in dieser Hinsicht vor allem zwei Personen, nämlich Jürgen Möllemann und - ersatzweise - Guido Westerwelle.

FDP will dem Vorwurf "sozialer Kälte" entrinnen

Um das noch immer vorhandene Image einer "Partei der Besserverdienenden" endlich loszuwerden, verabschiedete der Nürnberger Parteitag einen umfangreichen Beschluß zur Sozialpolitik, der die Idee des "Bürgergelds" um Vorschläge zu einer Reform der Krankenversicherung ergänzte. Grundidee war wiederum, die soziale Sicherung von den Arbeitseinkommen abzukoppeln und eine "Grundabsicherung" einzuführen. Nun könne man der FDP keine "soziale Kälte" mehr vorwerfen, frohlockte Generalsekretär Westerwelle.

Ein Antrag der Jungen Liberalen, die Ämter des Partei- und Fraktionsvorsitzenden zu trennen, verfiel der Ablehnung. Gerhardt, der bereits seine Bereitschaft zur Wiederwahl als Vorsitzender im nächsten Jahr bekundet hatte, konnte somit weiterhin beide Ämter in einer Person vereinen. Guido Westerwelle, der inzwischen von Möllemann bereits öffentlich als Nachfolger Gerhardts ins Gespräch gebracht worden war, nutzte die Gelegenheit zu einer Loyalitätsbekundung gegenüber Gerhardt, indem er sich vehement gegen den Antrag der "Julis" aussprach.

Sonderparteitag für Aussetzung der Wehrpflicht

Die Jungen Liberalen hatten außerdem die Abschaffung der Wehrpflicht und die Einführung einer Berufsarmee gefordert. Die Entscheidung darüber wurde auf einen Sonderparteitag am 17. September 2000 in Berlin verschoben. Zu den Befürwortern des Antrags gehörte Wolfgang Gerhardt, während sich die Gegner um Klaus Kinkel scharten. Am Ende votierten 377 von 623 Delegierten des Sonderparteitags für die "Aussetzung" der Wehrpflicht. Als Gerhardt gemäß diesem Beschluß am 13. Oktober im Bundestag für die vorläufige Abschaffung der Wehrpflicht eintrat, gab Verteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD) allerdings zu bedenken, daß eine Freiwilligen-Armee drei Milliarden Mark teurer käme.

Am Rande des Berliner Sonderparteitags gingen die personalpolitischen Auseinandersetzungen weiter. Möllemann ließ erkennen, daß er sich selber für den geeignetsten Kanzlerkandidaten hielt. Großzügigerweise räumte er aber auch Walter Döring und Rainer Brüderle Chancen ein, falls es ihnen gelingen sollte, bei den bevorstehenden Landtagswahlen in Baden-Württemberg bzw. Rheinland-Pfalz die von ihm gesetzte Marke von 9,8 Prozent zu übertreffen...

"Tandem-Lösung" mit Westerwelle und Gerhardt

Am 4. Januar 2001 kam die FDP-Spitze überein, den personalpolitischen Querelen mit einer "Tandem-Lösung" ein Ende zu setzen: Westerwelle sollte den Parteivorsitz übernehmen, Gerhardt aber Fraktionsvorsitzender bleiben. Vorausgegangen waren zwei Gespräche zwischen Gerhardt und Westerwelle, die am 3. und 4. Januar in Wiesbaden und Hamburg stattfanden. Angeblich sollen beide dabei auch vereinbart haben, Möllemann keine führende Rolle im bevorstehenden Bundestagswahlkampf einzuräumen.

Die "Tandem-Lösung" wurde kurz darauf beim Dreikönigstreffen der südwestdeutschen FDP am 6. Januar 2001 der Öffentlichkeit präsentiert. Gerhardt nutzte das Forum, um Möllemann - ohne diesen beim Namen zu nennen - unter dem Beifall der Parteifreunde öffentlich in die Schranken zu verweisen: "Man muß sich auch einmal zurücknehmen können." Noch massiver ging Klaus Kinkel den Störenfried an: "Herr Möllemann, geben Sie jetzt Ruhe!"

Möllemann dachte aber nicht daran, Ruhe zu geben, sondern überlegte bereits, wie er sich bei diesem Tandem möglichst elegant auf den Lenker schwingen könnte. Er betrachte sich nicht als Verlierer, ließ er verlauten. Der Führungswechsel sei durchaus in seinem Sinne. Er werde aber weiter für das "Projekt 18" kämpfen, bis der Bundesparteitag endgültig darüber entschieden habe.

Möllemanns "18 Prozent" werden offizielle Strategie der Partei

Auf dem 52. Bundesparteitag vom 4. bis 6. Mai 2001 in Düsseldorf konnte Möllemann einen großen Erfolg verbuchen: Die Delegierten nahmen sein Strategiepapier "18 Prozent" begeistert auf. Die hessische Landesvorsitzende Ruth Wagner wurde ausgebuht, als sie zu bedenken gab, daß die Stammwählerschaft der FDP nun mal zwischen drei und vier Prozent liege. Der baden-württembergische Landesvorsitzende Walter Döring, der sich im Vorfeld des Parteitags mit Möllemann angelegt und die Forderung nach einem Kanzlerkandidaten als "größenwahnsinnig" bezeichnet hatte, schaffte nur noch knapp den Einzug ins Präsidium.

Die Behandlung Ruth Wagners, die einer liberalen Partei unwürdig war, verblüffte sogar den Möllemann-Berater Fritz Goergen, der zusammen mit seinem Auftraggeber für die rauschhafte Stimmung der Delegierten gesorgt hatte:

"Die entfesselte Masse wollte ihren ganz anderen Standpunkt nicht hören. Sie wollte überhaupt keine Argumente hören. Sie wollte mit Gefühlen gefüttert werden. In diesem Saal war keine Toleranz mehr. Mir lief es kalt über den Rücken, nicht aus Begeisterung wie vielen Umstehenden, auch vielen Journalisten, sondern weil mich einen Moment lang durchzuckte: War es so im Sportpalast?"

Westerwelle weist die Forderung nach einem "Kanzlerkandidaten" zurück

Der neue Parteivorsitzende Guido Westerwelle machte sich ebenfalls das Möllemannsche "Projekt 18" zueigen und tat so, als ob es sich um ein realistisches Ziel handele. Er folgte Möllemann aber nicht bei der Forderung nach Proklamierung eines Kanzlerkandidaten: "Wenn man sagt, man will 18 Prozent, dann weiß man auch, daß man mit 18 Prozent nicht den Kanzler stellen wird." Es sei zu befürchten, "daß - wenn man die Schraube eine Umdrehung zu weit dreht - das Gewinde bricht".

Der Parteitag billigte Westerwelles Vorschlag, im bevorstehenden Bundestagswahlkampf mit einem Spitzenkandidaten und einem Führungsteam zu werben. In einem Leitantrag unterstrich er das Selbstverständnis der FDP als Volkspartei: "Wir sind keine Partei nur für eine bestimmte Berufsgruppe, Alters- und Einkommensklasse. Als Partei für das ganze Volk begreift sich die FDP weder als Teil eines Lagers noch als Mehrheitsbeschaffer." Die Partei wolle so stark werden, daß ohne sie keine Regierungsbeteiligung möglich sein werde, "außer einem Stillstandspakt von SPD und CDU/CSU. Unser Ziel heißt 18 Prozent."

Cornelia Pieper wird neue Generalsekretärin

Am ersten Tag des Düsseldorfer Kongresses war der bisherige Generalsekretär Westerwelle mit rund 89 Prozent der Stimmen zum neuen Vorsitzenden gewählt worden. Von seinen drei Stellvertretern konnte nur der rheinland-pfälzische Landesvorsitzende Rainer Brüderle eine derart große Zustimmung verbuchen, während Jürgen Möllemann auf 66,2 Prozent und Walter Döring nur auf 50,7 Prozent kam.

Der Parteitag wählte ferner mit 74,58 Prozent der Delegiertenstimmen die bisherige stellvertretende Bundesvorsitzende Cornelia Pieper zur neuen Generalsekretärin. Die ehemalige "Blockflöte", die seit 1985 der LDPD angehört hatte, war nach Irmgard Schwaetzer (1982 - 1984) und Cornelia Schmalz-Jacobsen (1988 - 1991) die dritte Frau in diesem Amt.

In seiner Antrittsrede gab sich der frischgebackene neue Parteivorsitzende Westerwelle recht selbstbewußt: "Auf jedem Schiff, das dampft und segelt, gibt es einen, der die Sache regelt - und das bin ich." - Das konnte und durfte als Platzverweis für Möllemann verstanden werden. Aber manchem Delegierten schwante, daß Möllemann nicht lockerlassen und Westerwelle auch noch in der "K- Frage" auf seine Linie bringen werde.

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