Udo Leuschner / Geschichte der FDP (33)

13. Bundestag 1994 - 1998


Unfreundliche Übernahme

Die dahinsiechende Berliner FDP wird erst von Rechten unterwandert und dann von Studenten überrannt

Ein spezielles innerparteiliches Problem, mit dem sich die FDP herumschlagen mußte, war die rechte Riege um den früheren Generalbundesanwalt Alexander von Stahl. Im Unterschied zu der ähnlich gestrickten Parteiopposition um den früheren bayerischen Landesvorsitzenden Manfred Brunner, der die Partei verlassen hatte und mit seinem "Bund freier Bürger" von außen in Bedrängnis brachte, wollte die Fronde um Stahl die FDP von innen her verändern und noch weiter auf Rechtskurs bringen.

Stahl verfügte seit dem 7. Juli 1993 über reichlich Zeit zur politischen Betätigung, weil die Bundesregierung ihn in den einstweiligen Ruhestand versetzt hatte. Anlaß dafür war der Skandal um die Festnahme der beiden Terroristen Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams am 27. Juni auf dem Bahnhof von Bad Kleinen. Die Beamten der Antiterror-Einheit GSG-9 hatten sich bei dieser Aktion zumindest sehr ungeschickt verhalten, indem sie Unbeteiligte gefährdeten. Grams erschoß einen der Beamten und wurde selber tödlich getroffen. Es gab Vorwürfe, Grams sei - in bereits wehrlosem Zustand - durch gezielten Kopfschuß "hingerichtet" worden. Zudem geisterte ein mysteriöser Dritter durch den Tathergang, der offenbar ein V-Mann war. Die Bundesanwaltschaft verwickelte sich in widersprüchliche Darstellungen. Bundesinnenminister Rudolf Seiters (CDU) übernahm die politische Verantwortung für den Skandal, indem er zurücktrat. Außerdem mußte der seit 1990 amtierende Generalbundesanwalt Alexander von Stahl seinen Sessel räumen. Die Entlassungsurkunde empfing er aus den Händen der Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die wie Stahl der FDP angehörte, im Unterschied zu diesem aber dem linksliberalen Flügel zugerechnet wurde.

Die rechte Erneuerung der FDP sollte von Berlin ausgehen, wo der Landesvorsitzende Günter Rexrodt am 23. November 1995 zurückgetreten war, nachdem die Partei am Vortag bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus von 7,1 auf 2,5 Prozent abgesackt war. Schon davor hatte es im Berliner Landesverband erbitterte Grabenkämpfe gegeben. Unter anderem hieb der rechte Flügel mit Hilfe der Medien auf die Parteivorsitzende Carola von Braun ein, weil sie Friseurrechnungen über die Fraktionskasse aus Steuergeldern bezahlt hatte. Braun trat deshalb Anfang Februar 1994 zurück und überließ Günter Rexrodt das Steuer des schlingernden Parteischiffs.

Stahl scheitert bei der Wahl zum Landesvorsitzenden

Auf dem Berliner Landesparteitag am 12. Januar 1996 bewarb sich der frühere Generalbundesanwalt um die Nachfolge Rexrodts. Vorausgegangen war eine heftige innerparteiliche Auseinandersetzung um die befürchtete "Haiderisierung" der FDP zu einer rechtskonservativen Partei nach dem Vorbild der österreichischen FPÖ. Zu den erklärten Gegnern Stahls gehörten Rexrodt und der neue Generalsekretär Guido Westerwelle.

"Unter unserer Verantwortung ist die Bundesrepublik fast ein sozialistischer Staat geworden", behauptete Stahl vor den Delegierten des Berliner Landesparteitags. Der österreichische Politiker Jörg Haider sei ein "Ehrenmann". Es sei auch noch kein Neonazismus, wenn man feststelle, daß in Deutschland zu viele Ausländer wohnten. Wenn Rexrodt befürchte, die schwarz-rot-goldenen Farben der Fahne des Hambacher Festes nicht von braun unterscheiden zu können, solle er die Fahne ihm übergeben.

Stahl erhielt indessen nur 114 von 330 Stimmen. Das Rennen machte mit 170 Stimmen der Nachwuchspolitiker Martin Matz, der von Rexrodt unterstützt wurde. Vor den Delegierten erklärte Matz: "Wer den starken Nationalstaat fordert, hat ein konservatives Verständnis unserer Gesellschaft." Das rechtsradikale Blatt "Junge Freiheit" schmähte ihn dafür als "gutgefönten Nachwuchsbanker im Maßanzug".

Die "Nationalliberalen" unterwandern vier Bezirksverbände

Stahl tröstete sich vorläufig damit, daß ihm zur Mehrheit nur noch dreißig Stimmen fehlten. In den Bezirken machte die Machtergreifung der Rechten gute Fortschritte. Seit 1996 beherrschten sie den Bezirk Reinickendorf. Auch Tempelhof, Neukölln und Spandau galten als national unterwandert. "Gegen die Schwalldusche der neuen Mitglieder kamen wir nicht an - so eine Unverschämtheit", beschwerte sich der abgewählte Reinickendorfer Bezirksvorsitzende Michael Tolksdorf.

Aber auch die Gegenkräfte formierten sich. Schon im September 1997 prophezeite der frühere stellvertretende Landesvorsitzende Jürgen Dittberner der "Berliner Zeitung", daß der "neonationale Versuch, die Firma zu übernehmen" endgültig abgeblockt worden sei.

Ein Teil von Stahls Gefolge wechselt zum "Bund freier Bürger" - die anderen werden integriert

Tatsächlich scheiterte am 23. Januar 1998 auch Stahls zweiter Versuch, sich bei der Wahl des Landesvorsitzenden gegen Matz durchzusetzen. Daraufhin traten sein Gefolgsmann Markus Roscher und 18 weitere Mitglieder des "nationalliberalen" Flügels aus der Partei aus. Roscher wechselte zum "Bund Freier Bürger" (BFB), der damals soeben mit der "Liberalen Offensive" des ehemaligen hessischen Landtagsabgeordneten Heiner Kappel fusionierte. Stahl dagegen erklärte, daß er "der FDP erhalten bleiben" werde.

"Keine Bange, Rom ist auch nicht an einem Tag erbaut worden", meinte Stahl nach der zweiten Niederlage in einem Interview mit dem Blatt "Junge Freiheit", in dem er seinen politischen Standort folgendermaßen umriß:

"Nationalliberale sind in meinen Augen diejenigen, die den klassischen Liberalismus à la Adam Smith und August von Hayek mit einem gesunden Schuß Patriotismus kombinieren, also die nicht gleich fünf Zentimeter kleiner werden, wenn der Begriff Deutschland fällt oder die bei diesem Wort politisch korrekt nur an ewige Schuld und Sühne denken können. Diese Nationalliberalen wird es in Zukunft einfach deshalb mehr geben, weil das Pendel immer zurückschwingt und der Kulminationspunkt der Sack-und-Asche-Ideologie überschritten ist."

Stahl irrte indessen, wenn er glaubte, doch noch in eine führende Position zu kommen. Die vom Rexrodt-Flügel und vom Bundesvorstand aufgebaute Abwehrfront hielt. Allerdings wurde die Isolierung Stahls mit der Einbindung anderer, weniger prominenter "Nationalliberaler" erkauft. So rückten gleichzeitig mit der Wahl von Matz zum Vorsitzenden die Stahl-Anhänger Axel Hahn und Alexander Fritsch in den Landesvorstand ein. Am ersten wußte Stahl gegenüber der "Jungen Freiheit" zu rühmen, daß er ein Schüler des Historikers Arnulf Baring sei, am zweiten, daß er "mit beiden Füßen fest im rechten Lager" stehe. Ein weiterer prominenter Vertreter des rechten Flügels war der Tempelhofer Bezirksvorsitzende Klaus Gröbig, der wie Stahl die Autorenliste der "Jungen Freiheit" schmückte.

2687 Studenten wollen der Berliner FDP beitreten

Schon vor dem erneuten Scheitern Stahls hatten Studenten dazu aufgerufen, massenhaft dem Berliner Landesverband beizutreten. Auslöser war ein Artikel in der linksliberalen "tageszeitung" vom 12. Dezember 1997, in dem der Politologe Tobias Dürr zu bedenken gab, daß "schon die Teilnehmerzahl eines überfüllten Proseminars" genügen würde, um in ganzen Orts- und Kreisverbänden der etablierten Parteien neue Mehrheiten zu schaffen und andere Themen auf die Tagesordnung zu setzen. Dieser Artikel brachte den 22jährigen Informatikstudenten Lukasz Pekacki auf die Idee, die Kommilitonen doch einfach zum Eintritt in die FDP aufzufordern, um die Parteigremien zu majorisieren und so beispielsweise eine vernünftige Bildungspolitik durchzusetzen. Der Berliner Landesverband bot sich in besonderem Maße für ein solches Projekt an, weil er nur 2700 Mitglieder hatte, während es in Berlin insgesamt 135.000 Studenten gab. Eine zusätzliche sportliche Note bekam das Projekt dadurch, daß gleichzeitig die rechte Riege um Alexander von Stahl den Berliner Landesverband zu kapern versuchte.

Das "Projekt Absolute Mehrheit" (PAM) ließ sich zunächst ganz gut an: Im Februar 1998 hatten 2687 Studenten ihre Aufnahmeanträge für die Berliner FDP eingereicht. In anderen deutschen Universitätsstädten kam es ebenfalls zu einer Flut von Aufnahmeanträgen. So wurde aus Köln, wo die FDP nur 900 Mitglieder zählte, von 800 Anträgen berichtet.

Aufnahmeanträge werden verschleppt und abgelehnt

Der Berliner Landesvorsitzende Martin Matz machte gute Miene zu der öffentlich angekündigten Übernahme seines Landesverbandes und hieß alle willkommen, die "konstruktiv" mitarbeiten wollten. Nun müsse sich herausstellen, ob die Aktion nur ein Jux oder ernstgemeint sei. Auch der Bundesvorstand reagierte gelassen. Man erhoffte sich hier wohl einen gewissen PR-Effekt und die Chance zur Rekrutierung von echtem Parteinachwuchs unter den Studenten. Generalsekretär Westerwelle wies vorsorglich darauf hin, daß die Partei nicht jeden aufnehmen müsse: "Wenn ein Student bei uns eintreten will, zugleich aber für eine sozialistische Hochschulgruppe arbeitet, wird er keine Chance bei uns haben."

Die Entscheidung über die Aufnahmeanträge trafen allerdings die Orts- und Bezirksverbände. Und hier stießen die Studenten auf offene Ablehnung und Feindseligkeit. Vielfach wurden die Aufnahmeanträge einfach verschleppt oder rundweg abgelehnt. So ignorierte der Bezirk Neukölln ein halbes Jahr lang 60 Anträge. Ähnlich war es im Bezirk Tempelhof. Eine Woche vor den Bundestagswahlen im September 1998 entschärfte dann der neue Berliner Landesvorsitzende Rolf-Peter Lange das blamable Problem, indem er die noch verbliebenen Interessenten über den Bundesvorstand als "bundesunmittelbare Mitglieder" aufnehmen ließ. Als sich die neuen Parteimitglieder im Januar 1999 an den Jahreshauptversammlungen der Bezirke Tempelhof und Neukölln beteiligen wollten, wurden ihnen jedoch der Zutritt verwehrt. Es kam zu Handgreiflichkeiten mit Mitgliedern der rechtslastigen Bezirke. Die Versammlungsleiter riefen die Polizei und erstatteten Anzeige wegen Hausfriedensbruchs. Die Studenten revanchierten sich mit einer Anzeige wegen Körperverletzung.

Nur 750 überstehen die Aufnahmeprozedur - und einige machen tatsächlich Karriere in der Partei

Auch im Berliner Landesvorstand herrschte Uneinigkeit darüber, wie mit den Anträgen zu verfahren sei. Der eben erst wiedergewählte Landesvorsitzende Martin Matz, der für eine wohlwollende Prüfung der Aufnahmeanträge plädiert hatte, sah sich von beiden Flügeln der Partei desavouiert und trat im März 1998 zurück. Er blieb jedoch Mitglied des FDP-Bundesvorstandes, dem er seit Mai 1997 angehörte. Drei Jahre später rückte er mit der Unterstützung des nunmehrigen Parteivorsitzenden Westerwelle sogar ins Parteipräsidium auf.

Am Ende wurden in Berlin nur 750 Antragsteller aufgenommen. Diese mußten alsbald die Erfahrung machen, daß es gar nicht so einfach war, die mühsam errungene Mitgliedschaft in politische Einflußnahme umzusetzen. Die meisten gaben bald wieder enttäuscht auf. Im Juli 1999 waren von den 750 weniger als die Hälfte übriggeblieben. "Wir konnten die verharschten Parteistrukturen nicht aufbrechen", resümierte einer der Studenten, nachdem er wegen eines "parteischädigenden" Fernsehinterviews ausgeschlossen worden war. "Während wir noch in den Ausschüssen diskutierten, waren Entscheidungen in Kungelrunden längst gefallen."

Einige der Studenten machten aber tatsächlich Karriere, nachdem sie höherenorts die Unbedenklichkeitsbescheinigung erhalten hatten, und sorgten so für frisches Blut in der Partei. Zu ihnen gehörte die Mathematikstudentin Sophie Lenski, die schon im Frühjahr 1999 Delegierte beim Bundesparteitag wurde und beharrlich an der Ablösung des Tempelhofer Bezirksvorsitzenden Klaus Gröbig arbeitete. Im Jahre 2001 war sie am Ziel und wurde neue Bezirksvorsitzende. Gröbig trat wenig später aus der Partei aus, weil seine "Leidensfähigkeit erschöpft" sei.

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