Udo Leuschner / Geschichte der FDP (18)

9. Bundestag 1980 - 1983


Den Dolch im Gewande

Wie Genscher und Lambsdorff den Bruch der sozialliberalen Koalition herbeiführten

Je nach Sichtweise changierte die Rolle Genschers bei der Sprengung der sozialliberalen Koalition zwischen der eines Schurken mit dem Dolch im Gewande und der eines Parteipolitikers mit strategischem Weitblick. In jedem Falle war es ein riskantes Manöver, die Partei, die erst vor zehn Jahren mit den "Freiburger Thesen" zu neuen Ufern aufgebrochen war, nun ins alte Fahrwasser einer Wirtschaftspartei zurückzubugsieren.

Schon im August 1981 scheint Genscher den Bruch der Koalition vorbereitet zu haben: Damals verschickte er an die FDP-Mitglieder ein Rundschreiben, in dem er sie auf bevorstehende Konflikte mit der SPD in Wirtschafts- und Haushaltsfragen einstimmte. Beispielsweise verlangte Genscher von der SPD den endgültigen Verzicht auf eine Ergänzungsabgabe, "damit die Investitionsbereitschaft der Wirtschaft nicht länger durch die Ungewißheit über weitere zukünftige Belastungen beeinträchtigt wird". Aus späterer Sicht konnte es als Ankündigung des Koalitionsbruchs aufgefaßt werden, wenn er eine "Wende" forderte und schrieb: "Unser Land steht am Scheideweg."

Schmidt stellt im Bundestag die Vertrauensfrage

Eine erste Gelegenheit zum begrenzten Konflikt bot der Haushalt 1982: Während die FDP auf den Abbau sozialer Leistungen drängte, formierten sich Teile der SPD zum Widerstand gegen den wirtschaftsfreundlichen Kurs des Kanzlers. Schmidt merkte, wie ihm auf beiden Seiten die Loyalität abhanden zu kommen drohte, und trat deshalb die Flucht nach vorn an: Am 3. Februar 1982 beschloß das Kabinett unter Beteiligung der Koalitionsfraktionen und der Bundesbank eine "Gemeinschaftsinitiative für Arbeitsplätze, Wachstum und Stabilität". Schmidt wollte so die Koalition auf ein einigendes Ziel verpflichten und die divergierenden "Sonderinteressen" eindämmen. Zugleich nahm er die Koalition auch förmlich in die Pflicht, indem er im Bundestag die Vertrauensfrage nach Artikel 68 des Grundgesetzes stellte.

Damit machte zum zweitenmal seit Bestehen der Bundesrepublik ein Kanzler von dieser Möglichkeit Gebrauch: Willy Brandt hatte 1972 die Vertrauensfrage gestellt, um über eine absichtlich herbeigeführte Niederlage den Weg für Neuwahlen freizumachen. Dagegen war Schmidt durchaus an breiter Unterstützung gelegen. Unter den gegebenen Umständen bekam er sie auch: Notgedrungen sprachen am 5. Februar 1982 sämtliche 269 Abgeordneten von SPD und FDP dem Kanzler das Vertrauen aus, während die CDU/CSU ebenso geschlossen mit "Nein" stimmte (durch den Ausschluß bzw. Austritt der beiden SPD-Abgeordneten Karl-Heinz Hansen und Manfred Coppik war die Koalitionsmehrheit inzwischen auf 269 Sitze abgeschmolzen. Hansen und Coppik nahmen auch nicht an der Abstimmung teil, weil sie darin eine "theatralisch-dramatische Schau" sahen).

Der Konflikt nimmt an Schärfe zu

Die erzwungene Einigkeit hielt nicht lange. Der SPD-Parteitag vom 19. bis 23. April 1982 in München plädierte für Steuererhöhungen und Sonderabgaben, die in erster Linie die Wirtschaft und Vermögende belasten sollten. Der SPD-Bundesgeschäftsführer Peter Glotz mahnte weniger Kompromißbereitschaft gegenüber der FDP an.

Die FDP war ihrerseits weniger denn je bereit, Kompromisse zu machen, sondern schraubte nun das Konfliktpotential noch höher. Auf dem Landesparteitag am 25. April in Hamburg erklärte Genscher mit Blick auf den Münchener SPD-Parteitag: "Deshalb ist Klarheit notwendig, daß diese Vorschläge nicht zur Regierungs- oder Koalitionspolitik werden, und wir garantieren das im Interesse der Investitionsbereitschaft und -fähigkeit unserer Wirtschaft."

Der Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff, der beim Konflikt mit der SPD die Rolle des Wadenbeißers spielte, formulierte auf dem Landesparteitag der FDP Rheinland-Pfalz noch schärfer: "Unsere Partei, unsere Bundestagsfraktion, unsere Mitglieder der Bundesregierung werden sich an dem langen Marsch, der von München in die Rumpelkammer des Investitionsdirigismus, der Steuererhöhung, der geballten Schuldenerhöhung führen soll, ganz gewiß nicht beteiligen."

Lambsdorff-Papier spaltet Koalition und FDP

Lambsdorff war es auch, der nach der Sommerpause jenen Sprengsatz legte, der die Koalition endgültig zerbrechen ließ. Am 9. September unterbreitete er dem Kanzler ein Konzept zur Überwindung von Wachstumsschwäche und Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, das einen Katalog von Belastungen für die breite Masse der Bevölkerung mit einem Katalog von Erleichterungen für die Wirtschaft verband. Das Lambsdorff-Papier war schon am 6. September in Auszügen in der "Bild-Zeitung" veröffentlicht worden. Es huldigte in plakativer Weise der Markt-Ideologie des "Neoliberalismus", wie sie in Chile unter Pinochet, in Großbritannien unter Margaret Thatcher und in den USA unter Ronald Reagan zum Markenzeichen des Neo-Konservativismus geworden war. Es provozierte nicht nur den Koalitionspartner SPD, sondern ebenso die Linksliberalen in der FDP. Sogar der stellvertretende CDU-Vorsitzende Kurt Biedenkopf sprach von "Radikalvorstellungen", die nicht als "Gründungsurkunde für neue Mehrheiten" dienen könnten.

Schon davor hatte Lambsdorff Spekulationen über einen möglichen Koalitionswechsel angeheizt, indem er in einem Interview mit der "Bild-Zeitung" eine CDU/FDP-Koalition in Hessen nach den dort bevorstehenden Landtagswahlen andeutete: "Der hessische Wähler entscheidet, was er von einem Wechsel der FDP in eine andere Koalition hält. Das würde für uns in Bonn eine wichtige Erkenntnis sein."

Damit sprach Lambsdorff aber nicht für die gesamte FDP, wie der linksliberale Bundesinnenminister Gerhart Rudolf Baum in einem Interview mit dem "stern" deutlich machte: "Die FDP darf keinen Königsmord an Helmut Schmidt begehen, dem Mann, den sie zum Regierungschef gewählt hat, wie sie es ihren Wählern versprochen hat."

Der FDP-Generalsekretär Günter Verheugen glaubte ebenfalls, die von Genscher und Lambsdorff im Bunde mit den Verlagen Springer und Burda zielstrebig betriebene Spaltung der Koalition noch aufhalten zu können: Die Forderung nach einer Wende bedeute nicht, daß die FDP einen Koalitionswechsel herbeiführen wolle, meinte er am 2. September. Es gebe überhaupt keine Pläne, Absichten oder Strategien, zu irgendeinem Zeitpunkt in Bonn die Koalition zu wechseln.

Schmidt fordert Kohl zum offenen Kanzlersturz auf

Nach der Veröffentlichung des Lambsdorff-Papiers war kein Platz für solche Illusionen mehr. Auch die wirklich liberalen Kräfte in der FDP, die den Liberalismus nicht als Apologie des Kapitalismus, sondern als politischen Gestaltungsauftrag begriffen, erkannten nun die klare Absicht, das seit 13 Jahren bestehende Regierungsbündnis zu sprengen: Die notwendige und unpopuläre Politik der Konsolidierung der Staatsfinanzen sei durch Lambsdorff "diskreditiert und damit erschwert worden", befand die Finanzexpertin der FDP-Bundestagsfraktion, Ingrid Matthäus-Maier.

Auch Bundeskanzler Helmut Schmidt ließ alle Hoffnung fahren, die Koalition noch retten zu können. Bis dahin war er durch Genscher, der sich im entscheidenden Moment stets bedeckt hielt, sowie durch die wohl ehrlich gemeinten Vermittlungsversuche des FDP-Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Mischnick hingehalten und über die wirkliche Strategie des Koalitionspartners im Unklaren gelassen worden. Anscheinend wollten Genscher und Lambsdorff die hessischen Landtagswahlen am 26. September abwarten, um mit der dann zu erwartenden Mehrheit für eine CDU/FDP-Koalition in Wiesbaden auch das Bonner Regierungsbündnis endgültig platzen zu lassen. Für Anfang November war ein FDP-Parteitag angesetzt. Die rechte Führungsriege hätte dort Gelegenheit gehabt, ihren Kurs gegen den widerstrebenden Rest der Partei durchzusetzen und ein neues Bündnis mit der CDU/CSU auf Bundesebene absegnen zu lassen.

Schmidt wußte inzwischen, daß Genscher hinter seinem Rücken mit dem Oppositionsführer Helmut Kohl konspirierte. Er wollte deshalb lieber ein Ende mit Schrecken als einen Schrecken ohne Ende. Am selben Tag, an dem ihm Lambsdorff das berüchtigte Papier offiziell überreichte, gab er im Bundestag eine Erklärung zur "Lage der Nation" ab. Im Verlauf seiner Ausführungen unterstellte er Kohl die "verschleierte Vorbereitung eines konstruktiven Mißtrauensvotums" und forderte den Oppositionsführer auf, nicht länger mit der Durchführung der Pläne für den Kanzlersturz zu zögern.

Die vier FDP-Minister erklären ihren Rücktritt

Eine Woche später, am 17. September, nahm sich Schmidt vor dem Bundestag in einer Rede, die er zuvor Genscher und Mischnick zukommen ließ, in ähnlicher Weise die FDP vor. Er stellte fest, daß Teile der FDP anscheinend erst die hessischen Landtagswahlen abwarten wollten, um dann - je nach Wahlergebnis - die Bonner Koalition zu beenden oder fortzusetzen. Er wolle jedoch nicht zusehen, wie das Ansehen und die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung ständig beschädigt würden. Es könne ihm niemand verdenken, daß er sich auch selbst nicht demontieren lassen wolle. Nach den Ereignissen der letzten Tage habe er "das politische Vertrauen zu einigen Führungspersonen der FDP verlieren" müssen. Der beste Weg, um aus der gegenwärtigen politischen Krise herauszukommen, seien Neuwahlen. Er schlage deshalb der Opposition vor, den Weg für Neuwahlen freizumachen, indem er die Vertrauensfrage stelle und die eigenen Freunde bitte, sich bei der Abstimmung zu enthalten.

Während der Kanzler noch sprach, ließ Genscher ihm mitteilen, daß er und die drei anderen FDP-Minister zurücktreten würden. Wenig später erhielten sie vom Bundespräsidenten ihre Entlassungsurkunden ausgehändigt.

Union und FDP stürzen Schmidt und wählen Kohl zum Kanzler

Noch am selben Tag beschloß die FDP-Fraktion mit 33 gegen 18 Stimmen die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit der CDU. Der Bundesvorstand billigte Genschers Kurs mit 18 gegen 15 Stimmen. Auch die meisten Landesverbände unterstützten Genscher. Nur Schleswig-Holstein, Hamburg, Berlin und Bremen bestanden auf der Einberufung eines Sonderparteitags, der aber wegen der 21tägigen Ladungsfrist frühestens Mitte Oktober hätte abgehalten werden können.

Bis dahin war der Koalitionswechsel längst perfekt: Am 1. Oktober 1982 stürzten Union und FDP mit einem konstruktiven Mißtrauensvotum das Minderheitskabinett von Helmut Schmidt und wählte Helmut Kohl zum neuen Bundeskanzler. Allerdings stimmten nicht alle FDP-Abgeordneten für Kohl. Insgesamt verfügte die neue Koalition über 279 Sitze. Kohl erhielt aber nur 256 Ja-Stimmen - sieben mehr, als für die vorgeschriebene absolute Mehrheit erforderlich waren.

Genscher, Lambsdorff und Ertl durften in dem neuen Kabinett Helmut Kohl ihre alten Ministerposten behalten, inklusive der Stellvertretung des Bundeskanzlers. Nur der linksliberale Justizminister Gerhart Rudolf Baum, der aus seiner Abneigung gegen den Koalitionswechsel kein Hehl gemacht hatte, wurde durch Hans Engelhard ersetzt.

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