Udo Leuschner / Geschichte der FDP (10)

6. Bundestag 1969 - 1972


Die sozialliberale Koalition

Die Regierung Brandt-Scheel schlägt ein neues Kapitel der Ost- und Deutschlandpolitik auf

Bei den Bundestagswahlen am 28. September 1969 erreichte die FDP nur noch 5,8 Prozent der Stimmen. Sie blieb damit weit hinter den 9,5 Prozent von 1965 zurück. Sie hatte aber insoweit Glück im Unglück, als sie noch nicht unter das Fallbeil der Fünf-Prozent-Klausel geraten war und mit 30 Abgeordneten wieder in den Bundestag einziehen konnte.

Im Bundestag saßen außerdem 224 Sozial- und 242 Christdemokraten (ohne Berliner Abgeordnete). Wie schon 1961 verfügten SPD und FDP über eine potentielle Mehrheit. Im Unterschied zur Situation vor vier Jahren, als die SPD den Abbruch der Koalitionsverhandlungen mit der Ungewißheit über das Stimmverhalten einzelner FDP-Abgeordneter begründete, hatte sich diese Mehrheit aber von sechs auf zwölf Stimmen vergrößert. Damit ließ sich besser regieren.

Vor allem aber hatte sich das politische Klima in der Bundesrepublik verändert. Sowohl FDP als auch SPD hatten gar keine andere Wahl, als die rechnerisch mögliche Koalition zur Wirklichkeit werden zu lassen. Sie hätten sich sonst ins politische Abseits manövriert und innerparteilichen Zwist heraufbeschworen. Seit der Wahl Heinemanns zum Bundespräsidenten waren sie sozusagen verlobt. Es gab keinen Grund, die nun mögliche Ehe nicht zu vollziehen.

Kiesingers Koalitionsangebot bleibt ohne Chance

So einigte man sich sehr schnell: Schon am Tag nach der Wahl beschloß der Partei- und Fraktionsvorstand der SPD einstimmig die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit der FDP. Die Führungsgremien der FDP faßten ebenfalls einen entsprechenden Beschluß - allerdings nicht einstimmig, sondern gegen den Widerstand der Parteirechten Erich Mende, Alexander Menne und Siegfried Zoglmann.

Die Unionsparteien, die als weiterhin stärkste Fraktion ein Anrecht auf die Regierungsbildung zu haben glaubten, sahen ihre Felle davonschwimmen. Der noch amtierende Bundeskanzler Kiesinger traf sich deshalb am 30. September mit dem FDP-Parteivorsitzenden Walter Scheel, um ihm ein umfassendes Programm der Zusammenarbeit in Bund und Ländern anzubieten. Außerdem versprach Kiesinger der FDP eine Garantie gegen das Mehrheitswahlrecht, mit dem die Union ihrem Koalitionspartner in der Vergangenheit mehrfach gedroht hatte, um ihn gefügig zu machen.

Die FDP erkannte aber wohl, daß sie nur noch dann eine Chance haben würde, wenn sie den bereits eingeleiteten Kurswechsel konsequent fortsetzen würde. Schon am 3. Oktober beschloß sie die Zustimmung zu einer Koalition mit der SPD und den Verzicht auf weitere Gespräche mit der CDU/CSU. Am 15. Oktober wurden die Verhandlungen definitiv abgeschlossen. Am 21. Oktober wählte der Bundestag den SPD-Vorsitzenden und bisherigen Außenminister Willy Brandt zum neuen Bundeskanzler. So schnell - nur 24 Tage nach den Bundestagswahlen - war noch keine Koalitionsregierung zustande gekommen.

FDP erhält Außen- und Innenministerium

In dem neuen Kabinett Brandt stellte die FDP drei von fünfzehn Ministern. Walter Scheel wurde Außenminister und Stellvertreter des Bundeskanzlers. Hans-Dietrich Genscher übernahm das Innenministerium, und Josef Ertl wurde für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zuständig. In Anbetracht ihrer bescheidenen Fraktionsstärke wurde die FDP also recht üppig bedacht.

Gegenüber der Vorgänger-Regierung wurde das Kabinett um fünf Ressorts abgespeckt. Ein weiteres Novum war die Einführung sogenannter parlamentarischer Staatssekretäre, die als politische Beamte die Minister im Kabinett und Parlament vertreten sollten. Für die FDP-Minister übernahmen diese Aufgabe Ralf Dahrendorf (Äußeres), Wolfram Dorn (Justiz) und Fritz Logemann (Ernährung). Der "Senkrechtstarter" Dahrendorf bekleidete seinen Posten allerdings nur wenige Monate, weil er abweichende Ansichten zur Ostpolitik hatte, und wechselte am 1. Juli 1970 zur EG-Kommission nach Brüssel.

Abschied von der Hallstein-Doktrin

Die neue Regierung Brandt-Scheel profilierte sich sofort auf dem Gebiet der Deutschland- und Ostpolitik, indem sie das von Egon Bahr erdachte Konzept "Wandel durch Annäherung" in die Tat umsetzte. Die Hallstein-Doktrin bzw. der Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik wurde nun endgültig begraben. "Wir gehen aus von der faktischen Existenz der DDR als eines zweiten Staates innerhalb der einen deutschen Nation", erklärte Außenminister Walter Scheel am 28. Januar 1970 in einem Vortrag vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, den das regierungsamtliche "Bulletin" veröffentlichte. Scheel verband dies aber mit der Einschränkung, daß die DDR im Verhältnis zur Bundesrepublik nicht als fremder Staat bzw. Ausland gesehen werden könne. Die Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten könnten deshalb nicht völkerrechtlicher Natur sein.

Gesamtdeutsche Treffen der Regierungschefs in Erfurt und Kassel

Obwohl die DDR auf völkerrechtlicher Anerkennung beharrte, konnte und wollte sie das Angebot direkter Gespräche mit Bonn nicht ausschlagen. So kam es am 19. März 1970 zum ersten gesamtdeutschen Treffen zwischen Bundeskanzler Willy Brandt und dem DDR-Ministerpräsidenten Willi Stoph in Erfurt. Am 21. Mai 1970 folgte ein zweites Treffen Brandts mit Stoph in Kassel. Beide Male beschränkten sich die Gespräche auf den formelhaften Austausch von Standpunkten. Sie wurden jedoch von beiden Seiten offiziell als nützlich bezeichnet und hatten eine enorme symbolische Bedeutung.

Die alten Sprachregelungen entfallen

Von großer symbolischer Bedeutung war auch, daß die beiden öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten ARD und ZDF ab 29. März 1970 die Wetterkarte, die bisher Deutschland in den Grenzen von 1937 gezeigt hatte, durch eine Europa-Karte ohne Grenzen ersetzten. Ein gutes Jahr später, am 30. Juni 1971, hob die Bundesregierung offiziell die amtlichen Richtlinien für Landkarten aus dem Jahre 1961 auf. Damit entfiel unter anderem die Verpflichtung, die Oder-Neiße-Grenze nur als "Demarkationslinie innerhalb Deutschlands" darzustellen und die DDR nur als "Sowjetische Besatzungszone Deutschlands" bzw. "SBZ" zu bezeichnen.

Scheel handelt die Ostverträge aus

Am 12. August 1970 unterzeichneten Bundeskanzler Willy Brandt und der sowjetische Premier Kossygin den Moskauer Vertrag, der ursprünglich als "Gewaltverzichtsvertrag" gedacht war. Mitunterzeichner waren die Außenminister Walter Scheel und Andrej Gromyko, die zwölf Tage um die Einzelheiten des Vertragstextes gerungen hatten. Beide Staaten bekundeten darin ihre Entschlossenheit zur Verbesserung und Erweiterung der Zusammenarbeit. Der wichtigste Passus lautete: "Sie betrachten heute und künftig die Grenzen aller Staaten in Europa als unverletzlich, wie sie am Tage der Unterzeichnung dieses Vertrags verlaufen, einschließlich der Oder-Neiße-Linie, die die Westgrenze der Volksrepublik Polen bildet, und der Grenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik."

Am 7. Dezember 1970 folgte die Unterzeichnung des Warschauer Vertrages, mit dem die Bundesrepublik ein weiteres Mal die Oder-Neiße-Grenze anerkannte und die Beziehungen zu Polen normalisierte. Auch bei diesem Vertrag hatte Scheel für die deutsche Seite zwölf Tage lang die Schlußverhandlungen geführt.

Siegermächte unterzeichnen Berlin-Abkommen

Die Normalisierung der Beziehungen zu Moskau und Warschau bereitete den Weg für einen erfolgreichen Abschluß der Verhandlungen über ein Berlin-Abkommen, mit denen die vier Siegermächte im März 1970 begonnen hatten. Am 3. September 1971 unterzeichneten die Botschafter der vier Mächte in Berlin den ersten Teil des Abkommens, indem sich die Sowjetunion verpflichtete, den Transitverkehr zwischen der Bundesrepublik und Westberlin zu erleichtern und nicht zu behindern. Die Einzelheiten sollten die beiden deutschen Staaten unter sich aushandeln. Dies geschah auch sofort, und schon am 17. Dezember 1971 waren die entsprechenden Transitabkommen der DDR mit der Bundesrepublik bzw. dem Senat von Westberlin unter Dach und Fach.

Die FDP fliegt aus drei Landtagen hinaus

Der neue Schwung und die Erfolge in der Deutschland- und Ostpolitik zahlten sich aber für die FDP vorerst nicht aus. Sie mußte jenes Wählerpotential, das diese Politik honorierte, erst noch für sich gewinnen. Einem zufriedenstellenden Wahlergebnis in Hamburg, wo sie sich am 22. März 1970 von 6,8 auf 7,1 Prozent verbessern konnte, folgte am 14. Juni 1970 ein verheerender Einbruch bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und dem Saarland. In Nordrhein-Westfalen rutschte sie von 7,4 auf 5,5 Prozent. In Niedersachsen sank ihr Stimmenanteil von 6,9 auf 4,4 Prozent und im Saarland von 8,3 auf 4,4 Prozent. Damit flog die FDP sowohl in Hannover als auch in Saarbrücken aus dem Landtag hinaus.

Zwischendurch konnte die Parteiführung wieder aufatmen: Bei der Landtagswahl am 8. November 1970 in Hessen behauptete sich die FDP mit 10,1 Prozent gegenüber 10,39 Prozent vor vier Jahren. Dabei kamen ihr "Leihstimmen" von SPD-Wählern zugute, die auf diese Weise sowohl die Koalition in Wiesbaden wie die in Bonn unterstützten. Noch erfreulicher war das Ergebnis bei den Landtagswahlen am 22. November 1970 in Bayern, wo die FDP mit 5,5 Prozent gegenüber 5,1 Prozent sogar leicht zulegte. Vor allem konnte sie in Mittelfranken wieder die 10-Prozent-Klausel überwinden und war somit wieder im Landtag vertreten.

Weniger erfolgreich verlief das Jahr 1971: Bei den Wahlen am 25. April in Schleswig-Holstein rutschte die FDP von 5,9 auf 3,8 Prozent. Sie war damit nach Hannover und Saarbrücken auch in Kiel nicht mehr im Landtag vertreten. In Berlin überwarf sie sich mit der SPD und wurde deshalb nach den Wahlen vom 20. April, bei denen die SPD knapp die absolute Mehrheit erreichte, nicht mehr am Senat beteiligt. In Rheinland-Pfalz konnte sie im Mai die bisherige Koalition mit der CDU unter Helmut Kohl nicht fortsetzen, weil die CDU nicht bereit war, ihr die Stimmenthaltung der Landesregierung im Bundesrat bei der Ratifizierung der Ostverträge zuzusichern. In Bremen verließ sie am 1. Juni die Koalition mit der SPD, weil ihr deren Hochschulpolitik zu links war. Bei den folgenden Bremer Bürgerschaftswahlen am 10. Oktober schrumpfte ihr Stimmenanteil von 10,5 auf 7,1 Prozent, während die SPD enorm zulegen konnte und die absolute Mehrheit errang.

Der rechte Flügel fordert eine Kursänderung

Auf dem 21. Bundesparteitag vom 22. bis 24. Juni 1970 in Bonn, der unmittelbar auf das dreifache Wahldebakel vom 14. Juni folgte, redete der Bundesvorsitzende Walter Scheel den enttäuschten Delegierten Mut zu. Zugleich warnte er vor einer Kursänderung, wie sie der rechte Parteiflügel forderte: "Die FDP sieht weder ihrem Untergang entgegen, noch besteht eine Gefahr, daß sie sich jetzt querlegt, in Profilneurose verfällt, weil sie sich nur als Sperriegel oder Bremser glaubt retten zu können."

Scheel wurde mit 398 gegen 64 Stimmen bei 14 Enthaltungen wiedergewählt. Sein Stellvertreter Hans-Dietrich Genscher bekam 281 Stimmen gegen 66 Nein-Stimmen bei 39 Enthaltungen. Zum Präsidium des neugewählten 32köpfigen Vorstandes gehörten ferner Wolfgang Mischnick, Hermann Müller, Hans Wolfgang Rubin, Lieselotte Funcke, Josef Ertl und Werner Maihofer. Insgesamt bestätigte der Parteitag den Kurs der Parteiführung.

Zoglmann gründet die "National-Liberale Aktion"

Die Parteirechten hatten sich bereits im April im sogenannten Hohensyburger Kreis zusammengeschlossen. Nachdem sie sich auf dem Bundesparteitag nicht durchsetzen konnten, gaben sie ihrem Bündnis am 11. Juli 1970 eine festere Form, indem sie auf der Hohensyburg bei Dortmund einen "überparteilichen" Verein mit der Bezeichnung "National-Liberale Aktion" gründeten. Sprecher des Vereins war der Bundestagsabgeordnete Siegfried Zoglmann, ein ehemaliger Gebietsführer der "Hitlerjugend", der zur alt-braunen Garde der nordrhein-westfälischen FDP zählte und schon 1953 in der Naumann-Affäre eine dubiose Rolle gespielt hatte. Zoglmann bezeichnete es als Ziel des Vereins, Scheel abzuwählen und so den Wählerschwund zu stoppen, den der Linkskurs der Parteiführung verursacht habe. Scheel bezeichnete seinerseits die "National-Liberale Aktion" als einen Verein von "politischen Pensionären", dessen Initiatoren aus verantwortlichen Parteiämtern abgewählt worden seien. Die Zoglmann-Truppe werde die FDP nicht daran hindern, ihre nationale Friedenspolitik und liberale Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik unbeirrt fortzusetzen.

Mende verbündet sich mit der Springer-Presse

Zur Rechtsopposition gehörte auch der ehemalige Bundesvorsitzende Erich Mende, der sich schon kurz nach Bildung der neuen Regierung in Blättern des Springer-Konzerns zu Wort gemeldet hatte. Am 31. Dezember 1969 verkündete Mende im Boulevardblatt "Bild-Zeitung": "Ich lasse mir keinen Maulkorb umbinden, wenn es um die Existenz der Partei geht, die ich vor 24 Jahren mitbegründet habe! Die Spatzen pfeifen es vom Dach, daß die FDP nach der Wahlniederlage vom 28. September 1969 in innere Schwierigkeiten geraten ist. Das, was uns 20 Jahre erspart blieb, ist jetzt eingetreten: Es geht um die Existenz der FDP!"

Am 2. Januar 1970 verlangte Mende in einem Interview mit der "Welt", Scheel müsse auf dem bevorstehenden Dreikönigstreffen "eindeutig die Position der Mitte" verkünden, um die FDP noch zu retten. Zwei Tage später nannte er in einem Interview mit der "Welt am Sonntag" zusätzlich fünf Bedingungen für den weiteren Kurs der FDP, zu denen die Nichtanerkennung der Oder-Neiße-Grenze gehörte.

Mende, Zoglmann und Starke treten zur Union über

Scheel warf seinerseits Mende auf dem Dreikönigstreffen am 6. Januar 1970 vor, die Partei mit seinen Interviews geschädigt zu haben. Die Partei verdiene es nicht, so "zerstörerisch durch die Presse geschleift" zu werden und sich "innere Konflikte aufschwatzen zu lassen, die ja nicht einmal Konflikte, die nur heiße Luft sind". Mende mußte sich anschließend vor dem Bundesvorstand rechtfertigen. Dabei behauptete er, daß seine Kritik eigentlich auf Äußerungen aus Kreisen des "Liberalen Studentenbunds" und der "Deutschen Jungdemokraten" gemünzt gewesen sei. Diese beiden Organisationen setzten sich besonders vehement für die linksliberale Wandlung der FDP ein, standen aber mit der Partei selber nur in loser Verbindung.

Der Aufstand der Parteirechten, der im Juli 1970 in der Gründung der "National-Liberalen Aktion" gipfelte, konnte den Kurs der Parteiführung indessen nicht mehr ernsthaft gefährden. Außerdem manövrierten sich die führenden Vertreter der Rechten selber ins Abseits: Im Oktober 1970 unterstützten Erich Mende, Siegfried Zoglmann und Heinz Starke als einzige Abgeordnete der Koalition einen Mißbilligungsantrag der CDU/CSU gegen den Finanzminister Alex Möller (SPD), der jedoch mit 260 gegen 251 Stimmen zurückgewiesen wurde. Damit hatten sie den Bogen überspannt. Am 8. Oktober erklärten die drei Abweichler ihren Austritt aus der FDP. Mende und Starke traten zur CDU über. Zoglmann wurde Hospitant bei der CSU-Landesgruppe im Bundestag. Daneben fungierte er als Vorsitzender der "Deutschen Union", die aus der "National-Liberalen Aktion" hervorgegangen war.

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