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Die Welt als Ware und Scherbenwelt
in Kästners "Fabian"

Schon Balzac schildert in seinem Roman "Verlorene Illusionen", wie auch Kunst und Geistiges den Gesetzen der Warenproduktion unterworfen werden. In Kafkas Romanen ist das Gefühl der Entfremdung durchgängiges Thema. Er bringt es in surrealistischer Manier zum Ausdruck, indem er die partielle Rationalität des kapitalistischen Alltags in den Zusammenhang einer umfassenden Irrationalität stellt. In ähnlicher Weise hat Hermann Kasack das verdinglichte Bewußtsein an einer von Schattenwesen bevölkerten Stadt der Toten exemplifiziert. Das Gegenstück dazu bildet die satirisch überspitzte, ansonsten jedoch vollkommen realistische Schilderung des verdinglichten Bewußtseins, wie sie Erich Kästner in seinem "Fabian" gibt:

"Fabian saß in einem Cafe namens Spalteholz und las die Schlagzeilen der Abendblätter: Englisches Luftschiff explodiert über Beauvais, Strychnin lagert neben Linsen, Neunjähriges Mädchen aus dem Fenster gesprungen, Abermals erfolglose Ministerpräsidentenwahl, Der Mord im Lainzer Tiergarten, Skandal im Städtischen Beschaffungsamt, Die künstliche Stimme in der Westentasche, Ruhrkohlenabsatz läßt nach, Die Geschenke für Reichsbahndirektor Neumann, Elefanten auf dem Bürgersteig, Nervosität an den Kaffeemärkten, Skandal um Clara Bow, Bevorstehender Streik von 140 000 Metallarbeitern, Verbrecherdrama in Chikago, Verhandlungen in Moskau über das Holzdumping, Starhembergjäger rebellieren. Das tägliche Pensum. Nichts Besonderes."

Die Welt als Scherbenwelt, wie sie Kästner zu Beginn seines 1931 erschienenen Romans charakterisiert, begegnet dem Romanhelden nicht nur bei der Zeitungslektüre. Sie bestimmt seinen ganzen beruflichen und privaten Alltag. Als Geisteswissenschaftler promoviert er mit einer stilkritischen Untersuchung über die Frage, ob Heinrich von Kleist gestottert habe (die Alternative wäre gewesen, ob Hans Sachs Plattfüße gehabt habe). Danach berechnet er Börsenkurse und macht einen Grünwarenladen auf. Schließlich wird er Reklamefachmann. Bei allem folgt er mehr der Not als der Neigung. Er muß sich eben verkaufen, so gut er kann. Aus der Öde des beruflichen Lebens flüchtet er in sexuelle Exzesse und schließlich in die zarte, romantische Liebe zu Cornelia. Denn im Grunde ist und bleibt er ein unverbesserlicher Moralist, der sich ein Leben ohne Werte nicht vorstellen kann. Der brutalen Gewalt einer Gesellschaft, die alles in Ware und Geld auflöst, kann er jedoch nicht entrinnen. Das Verhängnis beginnt damit, daß er seinen Job als Zigaretten-Werber verliert und Cornelia nicht mehr unterstützen kann. Cornelia wird so gezwungen, ihr Verhältnis mit Fabian der Karriere zu opfern und sich an einen Filmgewaltigen zu verkaufen. Das Ende des Romans ist als Gleichnis zu verstehen: Fabian geht unter, weil er nicht schwimmen kann...

Kästners Roman ist eine grimmige Satire auf das Deutschland der zwanziger Jahre, in dem das kapitalistische Prinzip seine zügellose Entfaltung erlebt: Alle tradierten Werte sind über den Haufen geworfen. Besser gesagt: Sie sind zur Ware geworden, wie alles andere. Es triumphieren die Käuflichkeit und die Verkäuflichkeit. Die Welt gleicht einem einzigen Bordell. Unter der scheinbaren Rationalität der Ware-Geld-Beziehungen kündigen sich dabei neue Irrationalismen an. Kästner glossiert sie in den Gestalten eines militanten Kommunisten und eines Faschisten, die sich bei einer nächtlichen Auseinandersetzung gegenseitig krankenhausreif schießen...

Das Szenario von Kästners "Fabian" ist die Welt der Ware - eine Welt, in der nur ein Mensch bestehen kann, der sich selbst, sein ganzes Denken, Fühlen und Handeln zur Ware macht.