Januar 1999

990101

ENERGIE-CHRONIK


Bundesregierung verzichtet vorerst auf Verbot der Wiederaufarbeitung

Die Wiederaufarbeitung von abgebrannten Brennstäben wird vorerst nicht verboten. Dies ist das wichtigste Ergebnis der ersten Verhandlungsrunde über den geplanten Ausstieg aus der Kernenergie, zu der sich am 26.1. die Bundesregierung und die Betreiber der Kernkraftwerke trafen. Damit ist in diesem Punkt auch eine von Bundesumweltminister Jürgen Trittin (Grüne) beabsichtigte Novellierung des Atomgesetzes vom Tisch, die zuletzt vorsah, die Wiederaufarbeitung ab dem Jahr 2000 zu untersagen. Der umstrittene Entwurf der Novelle soll nun erneut überarbeitet und am 3. März vom Kabinett verabschiedet werden. Die Aktien der Energieversorger erzielten nach Bekanntwerden des Ergebnisses Kursgewinne um bis zu 13 Prozent (FAZ, 27.1. u. 28.1.; FR, 27.1. u. 28.1.; SZ, 27.1.).

Wie Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) nach der Verhandlungsrunde vor der Presse erklärte, sind die Stromversorger bereit, das Ziel einer geordneten Beendigung der Nutzung der Kernenergie "aus Gründen des Primats der Politik" zu akzeptieren. Bis dieses Ziel durch einvernehmliche Festlegung von Restlaufzeiten erreicht sei, müsse der Betrieb der vorhandenen Kernkraftwerke sichergestellt sein. Auch das Verbot der Wiederaufarbeitung werde von den Stromversorgern akzeptiert. Es könne aber entschädigungsfrei nur durchgeführt werden, wenn technisch wie juristisch alle Voraussetzungen für die beabsichtigte Zwischenlagerung bei den Kraftwerken gegeben sind. Sobald dieser Entsorgungsweg realisiert sei, würden die Energieunternehmen alle vertraglich vorgesehenen Möglichkeiten nutzen, um zu einer Beendigung der Wiederaufarbeitung in Frankreich und England zu kommen. Die genannten Punkte würden jetzt in einer gemeinsamen Arbeitsgruppe weiter behandelt, bevor in der ersten März-Hälfte das nächste Gespräch stattfinde.

Für die Kernkraftwerksbetreiber bestätigte der HEW-Vorstandsvorsitzende Manfred Timm die Angaben Schröders. Zu der vom Kanzler erwähnten "sehr angenehmen Atmosphäre" habe auch Bundesumweltminister Trittin beigetragen, indem er zu Beginn des Gesprächs versicherte, die Grünen wollten künftig die Entsorgungsfrage nicht als Hebel zur Stillegung der Kernkraftwerke im Sinne einer von den Stromversorgern befürchteten "Verstopfungsstrategie" benutzen. Mit dem ursprünglich von Trittin geplanten Verbot der Wiederaufarbeitung zum 1. Januar 2000 hätten die Stromversorger keinesfalls leben können. Dieser Termin wäre "ein absoluter k.o.-Punkt für alle weiteren Gespräche gewesen".

"Schröder hätte wissen können, daß eine andere Lösung nicht denkbar war"

Die Medien werteten das Verhandlungsergebnis überwiegend als Zurückstecken der Bundesregierung, als Erfolg der Stromversorger und als Niederlage des grünen Koalitionspartners. Vielfach wurde Kritik daran geübt, daß Bundeskanzler Schröder die praktische Undurchführbarkeit des in der Koalitionsvereinbarung (981001) vereinbarten sofortigen Ausstiegs aus der Wiederaufarbeitung und den daraus resultierenden Widerstand der Stromversorger zu spät erkannt habe. Zum Teil wird der Streit um das Prozedere des Ausstiegs aber auch nur als koalitionsinterne Rollenverteilung zwischen Schröder und Trittin gesehen.

So meinte die Frankfurter Allgemeine (27.1.): "Schröder hätte als erfahrener Energiepolitiker wissen können, daß eine andere Verhandlungslösung nicht denkbar war. Zu schwer wogen die rechtlichen und sachlichen Bedenken. Das von den Grünen im Wolkenkuckucksheim erdachte Konzept eines ëAusstiegs auf die Schnelle' hätte zu einem Desaster geführt und nicht nur energie-sondern auch unabsehbaren außenpolitischen Schaden bewirkt."

Die kernkraftkritische Frankfurter Rundschau (27.1.) konstatierte: "Die Konsensgespräche sind nicht geplatzt, aber nur, weil Rot-Grün kläglich beidrehte. Etwas anderes war offenbar nicht möglich, da das Kabinett Schröder entweder die Machtverhältnisse im Staat - und der Kanzler persönlich sein Standing bei den Strombossen - falsch einschätzte oder aber in der Tat ein Verzicht auf die 'Entsorgung' in La Hague und Sellafield bis zum 1. Januar 2000 nicht ëmachbarë ist."

Die Stuttgarter Zeitung (27.1.) ´prophezeite: "Die gestrige Aufführung des Stücks ëAtomausstiegë ist nicht die letzte gewesen. Jürgen Trittin wird noch häufiger den ungeliebten Schurken geben, Gerhard Schröder ihn noch öfter in die Schranken weisen. Bisher vermitteln beide den Eindruck, als könnten sie mit dieser Rollenverteilung ausgezeichnet leben. Doch die ständige Wiederholung dieses Schauspiels dürfte dem Publikum schon bald zum Halse heraushängen."