Februar 2022

220201

ENERGIE-CHRONIK


Russischer Überfall auf Ukraine wird schwerwiegende Folgen für Energiewirtschaft haben

Starke russische Streitkräfte haben am 24. Februar die Ukraine überfallen, um den flächenmäßg zweitgrößten Staat Europas wieder dem Machtbereich des Kreml einzuverleiben. Vorausgegangen waren wochenlange Truppenaufmärsche an den Grenzen des Landes und hektische diplomatische Bemühungen zur Abwendung der Aggression, die der russische Präsident Wladimir Putin offensichtlich von langer Hand vorbereitet hat. Die unterlegenen Streitkräfte der Ukraine, deren Stützpunkte sofort mit gezielten Bombardements belegt wurden, hatten keine große Chance gegen die Invasoren. Sie und die Zivilbevölkerung widersetzten sich den Angreifern aber weit entschiedener, als diese erwartet hatten. Mit der Dauer der Auseinandersetzungen wuchs international die Empörung über Putin, der diesen Angriff angeordnet hat. Er wird nun weltweit – mit Ausnahme Chinas und ähnlicher Regimes – als Agressor und Kriegstreiber gesehen, wenn nicht gar als neuer Stalin oder Hitler. Am 26. Februar beschloss auch die Bundesregierung, die Ukraine mit der Lieferung von 1000 Panzerabwehrwaffen und 500 Luftabwehr-Raketen zu unterstützen, was sie zuvor abgelehnt hatte. Am Ende des Monats Februar war die Ukraine erst zu kleineren Teilen von russischen Streitkräften besitzt. Diese waren aber kurz davor, die Hauptstadt Kiew zu umzingeln und einzunehmen.

Mit der Anerkennung der Separatisten beförderte Putin das Minsker Abkommen in den Papierkorb

Am 21. Februar hatte Putin zunächst die beiden selbsternannten "Volksrepubliken" Lugansk und Donezk im Osten der Ukraine, die 2014 von prorussischen Separatisten mit militärischer Unterstützung Moskaus abgespalten wurden (140802, 140903), als reguläre Staaten anerkannt und zum Eintritt in die russische Föderation eingeladen. Zugleich ordnete er den Einmarsch von Truppen in diese Gebiete an. Die russische Propaganda begründete dies mit dem angeblichen "Völkermord", der dort drohe, weil es trotz des am 5. September 2014 geschlossenen Waffenstillstandsabkommens an der Grenze der besetzten Gebiete immer wieder zu Schusswechseln gekommen war. Damit hat Putin das sogenannte Minsker Abkommen vom 12. Februar 2015 endgültig in den Papierkorb befördert, mit dem auf Initiative von Deutschland und Frankreich versucht wurde, die Waffenstillstandsvereinbarung doch noch umzusetzen und weitere Fortschritte bei der Befriedung zu erreichen (150303).

Der Kreml-Herrscher begründet sein Wüten mit einer angeblichen NATO-Zusage, die es nie gegeben hat

Es war von vornherein klar, dass die NATO nicht militärisch eingreifen würde, da die Ukraine nach dem Zerfall der Sowjetunion nicht Mitglied dieses Bündnisses geworden war – im Unterschied zu Litauen, Lettland und Estland, die einst ebenfalls unter das Joch der Kreml-Diktatur geraten waren und von Stalin, wie schon zuvor die Ukraine unter Lenin, den Status einer "Sowjetrepublik" aufgezwungen bekamen. Allerdings hat die Ukraine schon seit einiger Zeit sowohl die Mitgliedschaft in der EU wie in der NATO angestrebt, was Putins Angriff auf die gesamte Ukraine letztendlich auch ausgelöst haben dürfte. Am 28. Februar bekräftigte der ukrainische Präsident Selenskyi diese politische Orientierung seines Landes durch einen verzweifelt-symbolischen Akt, indem er förmlich die Aufnahme in die EU beantragte. Propagandistisch begründete Putin sein Wüten aber vor allem aber mit der Behauptung, von der NATO getäuscht und betrogen worden zu sein, weil diese nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion fest versprochen habe, sich nicht nach Osten auszudehnen. Ein solches Versprechen hat es freilich nie gegeben, und was die russische Propaganda dennoch an Belegen dafür anführt, hält einer näheren Prüfung nicht stand (siehe Hintergrund). Zu Putins anderen, großteils nur bizarren und lächerlichen Begründungen für den Überfall auf die Ukraine gehörte, dass sie von Neonazis und Drogensüchtigen gesäubert werden müsse, die dort an der Regierung seien.

Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 bekommt keine Betriebserlaubnis

Putin muss sich sich nun auf schwerwiegende Sanktionen seitens der USA und der westeuropäischen Staaten gefasst machen, die mit der russischen Wirtschaft seine Herrschaft und die der ihn stützenden Oligarchen erschüttern sollen. Dazu gehört vor allem der bereits gefasste Beschluss, die russische Finanzwirtschaft zum großen Teil vom internationalen Zahlungsverkehr auszuschließen. Die Bundesregierung verfügte bereits nach der Aufkündigung des Minsker Abkommens als erste Maßnahme, dass die umstrittene Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 bis auf weiteres nicht in Betrieb genommen werden darf. Möglicherweise wird sie auch nie in Betrieb gehen, sondern die schon reichlich vorhandene Vermüllung des Binnenmeers durch Munition und Abfälle vergrößern.

Duldung der Pipeline galt nur solange, wie Russland keine weiteren Agressionen gegen die Ukraine begeht

Hinsichtlich Nord Stream 2 galt bislang noch immer der im Juli vorigen Jahres zwischen US-Präsident Biden und der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel vereinbarte Kompromiss, dass die USA die zweite Ostsee-Pipeline zur Umgehung der Ukraine zwar weiterhin ablehnen, aber keine Anstrengungen mehr unternehmen, um ihre Vollendung und Inbetriebnahme durch wirtschaftliche Sanktionen zu verhindern. Schon damals hat Deutschland in der gemeinsamen Erklärung jedoch zugesichert, dass dies nur solange gilt, wie Russland nicht versucht, "Energie als Waffe zu benutzen, oder weitere aggressive Handlungen gegen die Ukraine begehen". In diesem Fall werde "Deutschland auf nationaler Ebene handeln und in der Europäischen Union auf effektive Maßnahmen einschließlich Sanktionen drängen, um die russischen Kapazitäten für Exporte nach Europa im Energiesektor, auch in Bezug auf Gas, zu beschränken" (210701). Diese Verpflichtung band auch den Merkel-Nachfolger Scholz, der bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit US-Präsident Biden am 7. Februar das Wort Nord Stream 2 noch geflissentlich vermied und es bei der Versicherung beließ: "Wenn es zu einer militärischen Konfrontation kommt, wird es sehr, sehr hohe Kosten für Russland haben, das zu tun." Am 22. Februar verurteilte Scholz dann den von Putin angeordneten Einmarsch der Russen in die "Volksrepubliken" Lugansk und Donezk und deren staatliche Anerkennung als Bruch des Völkerrechts und schwere Gefährdung des Friedens in Europa. Angesicht dieser "grundlegend neuen Lage" habe er das Bundeswirtschaftsministerium gebeten, das Zertifizierungsverfahren für die Pipeline zu stoppen.

Deutschland deckt seinen Gasbedarf zu 55 Prozent aus Russland

Es werden aber noch weitere und schwerwiegendere Maßnahmen folgen müssen, um Putins Herrschaft ins Wanken zu bringen. Sie werden nicht nur die russische Bevölkerung treffen, die jetzt schon stark unter dem Regime leidet, sondern eine grundlegende Neuorientierung der westeuropäischen Energiepolitik vor allem hinsichtlich der Gasversorgung erfordern, die auch für die westeuropäische Bevölkerung erhebliche Belastungen zur Folge haben wird.

Russland deckt derzeit rund 40 Prozent des westeuropäischen Erdgas-Bedarfs. In Deutschland sind es beim Erdgas sogar 55 Prozent, beim Öl 35 Prozent und bei der Kohle 50 Prozent. Zumindest der Erdgas-Bereich bleibt vorläufig von den Sanktionen ausgenommen. Das liegt im beiderseitigen Interesse, denn Russland kann nur auf militärischem Gebiet als Großmacht gelten. Wirtschaftlich befindet es sich eher in einem kläglichen Zustand. Ohne die hohen Erlöse aus den Gas- und Ölexporten wäre es vermutlich mitsamt seiner korrupten Machtelite schon längst ökonomisch zusammengebrochen. Der Kreml würde sich deshalb selber am stärksten schaden, wenn er nun auf die Nichtinbetriebnahme von Nord Stream 2 und andere Sanktionen mit einer drastischen Reduzierung oder gar Beendigung der Gasexporte reagieren würde. Bisher will die Gazprom offenbar auch ihre Lieferverpflichtungen erfülllen, zumal hierzulande wegen des milden Winters noch genügend Gas bis zum Ende der Heizperiode zur Verfügung steht. Das kurzfristige Erpressungspotential wäre somit sehr gering.

Längerfristig darf man sich aber nicht mehr auf die russischen Gaslieferungen verlassen. Es wird deshalb dringend nötig sein, diese Abhängigkeit so schnell wie möglich durch eine stärkere Diversifizierung der Bezugsquellen zu verringern, zum Beispiel durch Flüssiggas-Importe wie in Litauen (150105), neue leitungsgebundene Importwege aus Algerien, dem kaspischen Raum oder dem östlichen Mittelmeer (200103) sowie durch noch stärkere Nutzung der erneuerbaren Energien. Grundsätzlich werden die gegenwärtigen Machthaber in Moskau die übermäßige Abhängigkeit Westeuropas von russischem Gas immer für ihre politische Zwecke zu nutzen versuchen, so wie erstmals im Januar 2006 gegenüber der Ukraine (060101) und noch drastischer drei Jahre später auch gegenüber Westeuropa (090101). Dies dürfte auch der Grund sein, weshalb die Gazprom im vergangenen Sommer die übliche Wiederauffüllung ihre großen Gasspeicher in Deutschland unterlassen hat (210804). Dass sie dann den starken Gaspreisanstieg nicht nutzte, um über die vereinbarten Mengen hinaus ihre Exporte und damit die Erlöse zu erhöhen, zeigte deutlich, dass der Kremlführung mehr an einer Schürung der Gaspreiskrise als an höheren Gewinnen lag. Diese politische Grundhaltung bestimmt auch die starke Position, über die Russland als zweite Führungsmacht neben Saudi-Arabien im "Opec-Plus"-Kartell beim regelmäßigen Poker um die Förderquoten für Rohöl verfügt (220202).

 

Links (intern)

zur russischen Einverleibung der Krim und Separierung der Ost-Ukraine

zur Auseinandersetzung um Nord Stream 2 seit 2021

HINTERGRUND-ARTIKEL zu den Wirtschaftsbeziehungen mit Russland allgemein

HINTERGRUND-ARTIKEL zu Nord Stream und anderen Gas-Projekten