November 2002

021103

ENERGIE-CHRONIK


EU will auch für nukleare Sicherheit zuständig werden

EU-Energiekommissarin Loyola de Palacio hat am 6. November 2002 ein umfangreiches "Gemeinschaftskonzept für die nukleare Sicherheit in der EU" vorgelegt. In ihrer Mitteilung an den Rat und das Europäische Parlament verweist die Kommissarin auf die 2004 anstehende Erweiterung der EU um zehn mittel- und osteuropäische Staaten. Damit sei ein EU-einheitliches Konzept für Konstruktion, Betrieb und Entsorgung von Reaktoren dringlicher denn je. Als rechtliche Grundlage des vorgelegten Gemeinschaftskonzepts soll der 1957 unterzeichnete Euratom-Vertrag dienen. "Die Betrachtung der kerntechnischen Sicherheit aus einer rein nationalen Perspektive ist heute nicht mehr wünschenswert", heißt es in dem Dokument.

Trotz der generellen Zuständigkeit der Gemeinschaft für die nukleare Sicherheit soll sich das Prüfungssystem im wesentlichen weiter auf den technischen Sachverstand der einzelstaatlichen Sicherheitsbehörden stützen. Die Kommission hält es nicht für erforderlich, ein Korps von Gemeinschaftsinspektoren einzusetzen, wie dies im Rahmen der Kontrolle von Kernmaterialien der Fall sei (gemeint sind die derzeit 250 Inspektoren des Amts für Euratom-Sicherheitsüberwachung, die innerhalb der EU dafür sorgen sollen, daß Kernmaterialien keinen bestimmungsfremden Zwecken zugeführt werden).

Rückstellungen sollen staatlich verwaltet werden

Unter anderem will die EU-Kommission die Rückstellungen für den Abriß von Kernkraftwerken der Verfügungsgewalt der privaten Betreiber entziehen und sie in nationale Fonds einbringen, die von Brüssel kontrolliert werden. Damit soll die Verfügbarkeit dieser Gelder langfristig gesichert und eine Zweckentfremdung zur Erlangung von Wettbewerbsvorteilen verhindert werden. Nur in Ausnahmefällen und sofern die Verfügbarkeit der Gelder garantiert ist, soll die Verwaltung der Fonds beim Betreiber verbleiben können.

Betriebsfähige Endlager bis spätestens 2018

Bestandteil des Pakets ist ferner eine Richtlinie über abgebrannte Brennelemente und radioaktive Abfälle. Die EU setzt auf die Endlagerung in geologischen Formationen als - wie es heißt - derzeit sicherste technische Lösung. Die Genehmigungen für die Endlagerung von hochradioaktiven Abfällen an geeigneten Standorten sollen bis spätestens 2008 erteilt und die Lager selber bis spätestens im Jahr 2018 betriebsfähig gemacht werden. Die Endlagerung schwach aktiver Abfälle soll spätestens im Jahr 2013 erfolgen. - Dieses EU-Konzept kollidiert mit der Politik der Bundesregierung, die mit den Kernkraftwerksbetreibern eben erst die Einrichtung von Zwischenlagern an sämtlichen Standorten vereinbart hat, um Nukleartransporte zu vermeiden und die Lösung des Endlagerungs-Problems möglichst lange hinauszuschieben

In den Beitrittsländern sind 20 Reaktoren sowjetischer Bauart in Betrieb

Derzeit betreiben sieben der zehn Staaten, die 2004 der EU beitreten sollen, insgesamt 22 Reaktoren, von denen 20 sowjetischer Bauart sind. Die EU hat von den Beitritts-Kandidaten Slowakei, Bulgarien und Litauen die Abschaltung der Reaktoren Bohunice 1 und 2 (921015, 960407), Kosloduj 1 bis 4 (951012, 980317) und Ignalina 1 und 2 (921011, 931016, 941111, 980319) gefordert. In dem Vorschlag der EU-Kommission wird auf die Auseinandersetzung zwischen Tschechien und Österreich um das neue Kernkraftwerk Temelin (020611) verwiesen und festgestellt, "daß es bei Bestehen gemeinsamere Sicherheitsnormen viel einfacher gewesen wäre, eine Lösung für diese Differenzen zu finden".

Bundesregierung sieht Atom-Kompromiß in Gefahr

In einem Brief an de Palacio lehnte Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) den Richtlinienvorschlag "in der derzeitigen Fassung" ab. Die Bundesregierung sieht durch die geplante Einbringung der Rückstellungen in nationale Fonds den mühsam ausgehandelten Atom-Kompromiß mit den deutschen Kernkraftwerksbetreibern gefährdet. Außerdem bezweifelt sie, daß der Euratom-Vertrag als ausreichende Rechtsgrundlage dienen könne. Nach ihrer Meinung räumt der Euratom-Vertrag der EU nur Kompetenzen im Strahlenschutz ein. Am 14. November trafen de Palacio und Clement zu einem Gespräch über ihre unterschiedliche Sichtweise der Dinge zusammen, das jedoch keine Einigung erbrachte. (FAZ, 15.11.)

Kommission will Euratom-Darlehen aufstocken

Auf Widerspruch der Bundesregierung stieß auch der Vorschlag der Kommission, das Volumen für die Vergabe sogenannter Euratom-Darlehen von derzeit vier auf sechs Milliarden Euro zu erhöhen. Die Kommission begründete die Aufstockung mit der geplanten Erweiterung der EU. Sie will die Gelder vor allem zur Erhöhung des Sicherheitsstandards von Kernkraftwerken in Mitgliedsländern sowie in Drittstaaten verwenden. Bundesumweltminister Jürgen Trittin (Grüne) warf der Kommission vor, eine Industriebranche ohne Zukunft unterstützen zu wollen. In einem Brief an die Kommissionsmitglieder bezeichnete er es als "nicht akzeptabel, einen weiteren Ausbau der Atomenergie-Nutzung mit zu finanzieren" und äußerte die Befürchtung, die Mittel könnten auch "zur Fertigstellung im Bau befindlicher Atomkraftwerke" verwendet werden. (FR, 7.11.)

Bolkestein setzt sich für Kernenergie ein

Nach Ansicht von EU-Binnenmarktkommissar Frits Bolkestein wird die Bedeutung der Kernenergie in der EU in den kommenden Jahren zunehmen. "Nuklearenergie trägt entscheidend zu einer langfristigen europäischen Energiepolitik bei", sagte Bolkestein am 7. November vor dem "Institute of Economic Affairs" in London. Der Euratom-Vertrag gehöre noch immer zum Kern der europäischen Energiepolitik. Wer Liberalisierung und Privatisierung als Gefahr für die Energieversorgungssicherheit sehe, befinde sich auf dem Holzweg. Die wirkliche Gefahr für die EU liege in ihrer steigenden Abhängigkeit von ausländischen Energiequellen und der Unbeständigkeit der Öl- und Gaspreise. Mehr Kernenergie verringere diese Abhängigkeit und leiste einen hervorragenden Beitrag zu den in Kyoto vereinbarten CO2-Minderungszielen.

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